Alltag

Wer nicht arbeitet

Bei der Ursachenforschung für die wegweisenden oder wegweisenden, also jedenfalls weisen Ideen des Oppositionsführers des Landes kamen erst Jahre später ein Team von Tübinger Hirntraumforensikern – vermutlich anläszlich einer Wiedervorlage – auf untergründig wirkende Träume. Arge Träume, die ihre Narrative im Moment des Erwachens auslöschten. Vage Alpträume, die sich in glasklare Forderungen materialisierten.
Die Traum-Rekonstruktion war in langen Testreihen gelungen.
Augenblicklich wird an möglichen Auslösern für die Auslöser geforscht. Dies ist ein Bericht aus der Zukunft. Alles ist von gestern bis heute erneut auf den Prüfstand gestellt worden, rücksichts- und vorurteilslos.

Der Traum bestand aus drei Teilen. Der Politiker erwachte mit einem Druckgefühl auf dem Brustbein. Als er die Küche aufsuchte, war kein Kaffee gekocht und auch nicht aufgeräumt. Im Eszzimmer waren keine Vorbereitungen für seinen anstrengenden und ebenso verantwortungsvollen wie vollen Arbeitstag getroffen worden. Kein Frühstück, keine Zeitung, kein Tagesmotto, kein Blümchen. (Tatsächlich schätzten die vielbeschäftigten und viel-reisenden Politiker des Landes an jedem Ort eine persönliche Note, die ihre persönlichen Referenten immer herzustellen wuszten.) Nichts davon. Doch da lag eine Notiz. Auf Papier. Krakelschrift. „Wir sind alle weg. Haben Stütze beantragt. Leben Sie wohl!“ Es fehlte kein Name. Dann bemerkte er das Nichtvorhandensein von Kleidungs-stücken am üblichen Ort. Natürlich kam er klar. Mag sein, dasz die Krawatte nicht optimal zu Sakko oder Hemd paszte. Seltsamerweise hing nur ein Hemd im Schrank. War das TV-Interview heute oder morgen? Er spürte einen kurzen Stich – ungewohnt war diese Abhängigkeit. Oder besser: diese Schlecht-Leistung. Zu diesem Zeitpunkt war die Tragweite der Krakel-Botschaft noch nicht in allen Gehirnarealen angekommen. Er trat auf die Strasze. Normalerweise war die belebt. Hastende Leute mit Smartfohn und Kaffeebecher, andere, die Kinder hinter sich her zerrten. Ein paar Alte mit Rollatoren, am kleinen Quartiersplatz ein paar Trinker. Die Stille konnte man erwartungsvoll nennen.

Einen Moment verweilte der Politiker-Blick auf den struppigen Männern mit Kippe und Bierflasche. Waren die eigentlich immer hier? Was taten die? Und warum hier? Einer schien ihn erkannt zu haben: „Na Fritze, kommste mal rüber?“ Der winkte mit einer Bierbuddel. Da wollte der so unpassend Angeredete in einem der Cafés verschwinden. Als er sah, dasz alle geschlossen waren. Nein, sie waren nicht geschlossen, sie waren verrammelt. Einige Läden waren mit Brettern vernagelt, an einigen Eingangstüren baumelten Ketten mit Vorhang-schlössern. War heute etwa einer dieser überflüssigen neuen zeitgeistigen Feiertage? Irgendwas mit Befreiung vom Faschismus oder gegen Frauen-Gewalt und er hatte es nicht mitbekommen? Die letzte Nacht war wirklich seltsam gewesen, obwohl, ein zusätzlicher Feiertag hätte ja doch einen längeren Vorlauf gebraucht.
Vor der Bäckerei Lindner stieszen zwei Frauen zusammen. „Nun ist es doch so gekommen!“ „Ja, hat mein Mann schon vor Jahren gesagt.“ „Was genau?“ „Na, dasz sich Arbeit nicht mehr lohnt.“ Der Politiker wollte sich an dieser Stelle an das Gespräch einschalten. Doch die beiden Frauen, er sah erst jetzt, dasz beide rosafarbene Jogginghosen trugen, die Figur gab das her, enteilten in zwei verschiedene Richtungen.

Da stand nun der Oppositionsführer und wuszte nicht, wo er einen Kaffee – und sei es in einem Pappbecher – herkriegen sollte. Die Politiker brauchten lange, um zu realisieren, dasz alle Angestellten aller Läden ihre Jobs zugunsten einer staatlichen Alimentierung aufgegeben hatten. Ebenso war es mit allen Angestellten des öffentlichen Personennahverkehrs. Zu Fusz machte er sich auf den Weg zum Reichstag.

Stellen wir uns vor, es war Frühling, Sommer oder ein schöner Herbsttag. Lassen wir es offen, wie er den Weg überhaupt fand.
Der zweite Teil des Traums, der von Atemlosigkeit und Mundtrockenheit begleitet war, konfrontierte den mutigen Politiker mit verstörenden Hauptstadt-Szenen. Das konnte doch nicht Berlin sein? Auf dem Grünstreifen einer plötzlich ruhigen Durchgangsstrasze spielten Leute Boule, ganz normale Leute, Leute, in arbeits-fähigem Alter, die nicht von irgendeinem Drogenkonsum gezeichnet waren. An der Spree plötzlich Dutzende von Anglern. Der Politiker verspürte körperlichen Ekel, obwohl ihm bewuszt war, das eingetreten war, wovor er immer gewarnt hatte.

Es fehlte an allem: an Gemeinsinn, an Lebenstauglichkeit und an … es fiel ihm nicht ein. Bei der letzten Parteitagsrede hatte er viel Beifall bekommen. Er kickte eine Energy-Drink-Dose weg, eine klassische Bananenflanke. Die Dose landete in einem Fahrradkorb, in dem schon viel Unrat lagerte. Auch so ein Ärgernis.
Übertroffen nur noch von den allgegenwärtigen Graffitis, auf die sein Blick unweigerlich fiel.
Der Widerstand gab ihm doch immer recht. Nunja, „Widerstand“, er sprach laut vor sich hin. Reflexartiges Genöle und Gemotze aus der linken Ecke war es. Der Bundespräsident hatte nicht halb soviel Schelte einstecken müssen für seine Anregung eines sozialen Pflichtjahrs für alle jungen Leute nach der Schule. Eine sehr gute Idee, jetzt leider ein wenig verbrannt. Seine Vision ging weiter: er hatte vor einem Jahr erneut seine Forderung nach einer Arbeitspflicht für Arbeitslose auf die Agenda gesetzt. Die sozialdemokratische Regierung in Dänemark plante da eine solche. Das war es: Fordern statt immer nur Fördern. Die Einwände waren kleinlich und phantasielos. 37 Stunden sinnvolle Arbeit wie zum Beispiel Müllsammeln am Strand, das zielte besonders auf Gruppen, die nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind, wie Zuwanderer und besonders Frauen aus muslimischen Ländern. Kleinlicher Einwand: diese Jobs dürften ja nicht reguläre Arbeitsplätze sein, keine Arbeit wegnehmen. Ja, die müszte man neu schaffen, diese Arbeitsgelegenheiten. Aber wer sagt, dasz einer, der sich versteht auf Kapitalvermehrung nicht auch Arbeit vermehren kann.

Dringend muszte er sich jetzt allerdings der Herausforderung eines belebenden Getränks und eines kleinen Happens stellen. Er blieb vor einem blaszrosa gestrichenen Haus stehen. Wohnte hier nicht eine Jugendfreundin von ihm? Eine Beate oder Beatrice? Er klingelte bei B. Schulte-Remmert.
Und fiel in einen andersartigen, dritten Traum-Raum.

Im Kerzenlicht sah er sich selbst, seinen immer noch schlanken, wiewohl eher leptosomen als athletischen Körper. Um seine Hüften war eine Art Stola gewickelt. Arme und Beine waren festgeschnallt. Er wuszte nicht, ob er hing oder lag, aufgehängt war er offenbar an einem Andreaskreuz. Er war allein. Ein Trommelrhytmus, an- und abschwellend, Vier-Viertel.
„Beate, bist Du da?“ Keine Antwort. „Oder sind Sie es, Madame Szepanski?“
Er war allein. Es war kalt. Die Kerzen flackerten, eine computergenerierte Stimme forderte ihn auf: „Sag an, was schreibt Paulus an die Thessalonicher, 2. Brief, Vers 3, 6 bis 13!“
Der Rhythmus verzögerte sich. Die Kerzen brannten wieder ruhig.
Er wuszte es nicht. „Es fällt mir gerade nicht ein, ich bitte Sie …“
Die Stimme wiederholte die Frage.
„Geben Sie mir doch einen kleinen Hinweis … ich bin gerade …“
Die Stimme: „Warst Du nicht Messdiener?“
„Bitte nicht schlagen!“
„Du bekommst Deinen Hinweis – und dann kannst Du wählen zwischen Schlägen oder einem Anziehen der Fesseln. Augenblick: ich habe noch ein Drittes im Angebot.“
„Ich möchte sagen: ich nehme das Angebot an. Bitte, der Hinweis …“
„Paulus spricht: Wir geboten euch: Wer nicht arbeiten will …“
„… Der soll auch nicht essen, der soll auch nicht essen, der soll auch nicht essen…“
„Nun gut. Du hättest es sicherer wissen müssen.“
„Darf ich jetzt bitte meine Belohnung haben?“
„Willst Du mich verarschen? Aber da Du offenbar gut Sätze komplettieren kannst, habe ich noch drei für Dich. Und ist das Leben köstlich gewesen …“
„… ist es Mühe und Plage gewesen.“ Ihm war, als striche ganz sanft eine Peitsche mit neun Lederriemen über seinen Leib. „Weiter!“
„Gleiches Unrecht …“
„… für Alle!“
„Müsziggang …!“
„… ist aller Laster Anfang!“
Eine Peitsche knallte direkt neben ihm.

„Zur Vervollständigung Deiner Bildung setzt meine Sklavin Dir jetzt eine VR-Brille auf. Ich wünsche Dir viel Spasz im historischen Rollenspiel. Alles nach Quellen rekonstruiert.“
Die Stimme des Schülers wurde nicht aufgezeichnet. Er fand sich wieder in kratzender Anstaltskleidung, die Arbeitszeiten waren von 6 bis 20 Uhr. Ein unbeschreiblicher Geruch umwehte ihn. Fein angezogen war der Vogt, der sprach: „… die Züchtlinge, denen man Zaum und Gebisse muss ins Maul legen, wann sie, Herr, nicht zu Dir wollen, wie der 32. Psalm, Vers 9 redet, die in ihren Zuchtkojen und Werkstuben gefänglich gehalten werden und arbeiten müssen, und von Natur zu aller Bosheit und Untugend geneiget, von sich selber aber nichts Gutes tun wollen, sich mit Fluchen, Schwören, Sakramentiren und Gotteslästerung, Lügen und Trügen meisterlich behelfen können, Gottes und sein heiliges Wort missbrauchen und verachten, den Eltern und der lieben Obrigkeit ungehorsam, in Hass und Feindseligkeit, Dräuworten, in allerlei Unzucht, Diebstahl, in Fressen und Saufen, Schlemmen und Demmen und in Summa in allerlei Sünd und Schand, wie das liebe Vieh, dahin lebt, auch wohl das Ihre, was ihnen durch ihre lieben Eltern mit ihrem sauren Schweiss geliefert und verdienet worden, mit Huren und Buben ganz und gar durchbringen und verzehren, und also zuletzt gar an den Bettelstab gerathen, und wo ihnen bei Zeiten nicht geholfen würde, einem andern wohl gar in die Hände kommen und gerathen möchten.“

Oder:
Aus der Zuchthausordnung von 1622: „Zweierlei Personen gehören in das Haus, nämlich die Armen und Notdürftigen, die ihre Kost nicht verdienen können, weil sie keine Mittel und Wege haben. Item auch etliche, die wegen ihres faulen Fleisches undt der guten Tage willen solches (ARBEITEN) nicht thun, sondern gehen lieber betteln, nehmen etwas aus dem Gotteskasten, oder sein noch willens etwas daraus zu empfangen, auch befinden sich noch viele starke, faule, freche, geile, gottlose, muthwillige undt ungehorsame, versoffene Trunkenbolde und Bierbalge, so wol Frauen als auch Mans-Persohnen, die in Untugend, Hurerey, Dieberei und in allerley Sünde undt Schande erwachsen, und sich täglich des Bettelns vor den Türen undt auf den Straszen befleissigen.“

Bevor unseren Politiker eine gnädige Ohnmacht ereilte, sah er noch, wie der Vogt den Schlüssel des Arbeitshauses wegwarf.