Anderswo

Störfeld Rungholt und die Halliggräfin

Der Name des verschwundenen Eilands läszt denken an Lehmputz, der von Flechtwänden fällt, an blakendes Feuer, an weites, von Gräben durchzogenes Land, stehendes Wasser und westwärts bloszen grauen Schlick. Und Meeresgrund, der ein Zugrund, Grabesgrund, Ohnegrund ist. Ein geringes Holz, ein kleiner Wald, das soll der Name Rungholt meinen. Auf alten Karten sehen die Bäume aus wie wartende Leute einer Versammlung. Alle sieben Jahre tönt die Glocke der untergegangenen Kirche – wenn Zahlen präzise Phantasien sind, ist das korrekt: ein Orkan braust wie eine gewaltige Glocke. Was man hört, gibt es, was ich ausspreche, gibt es.

Störfeld Rungholt.
Landkarte 1: Ende des 19. Jahrhunderts irrte sich der Offizier, Spieler, Landrat Freiherr von Liliencron in der Stelle, bewahrte Rungholt indes für mindestens sechshundert Jahre. „Heut bin ich über Rungholt gefahren, Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren. Noch schlagen die Wellen da wild und empört, Wie damals, als sie die Marschen zerstört.“
Landkarte 2: Der Müllerssohn Andreas Busch kartierte in den 1920er Jahren die verlorene Stadt. Er fand und zeichnete Reste von Spundwänden und einer Schleuse, von Warften und Brunnen und vor allem Scherben.
Strom 1: Der Norderhever, ein inzwischen fast 30 Meter tiefer Wattenstrom zwischen Eiderstedt, Pellworm und Nordstrand risz in den nachfolgenden Jahrzehnten alle Kultur-Spuren mit sich.

Materielle Relikte sind zu besichtigen und zu besehn, in Museen in Kiel und in Husum und mittwochs ab 15 Uhr in Helmut und Rita Bahnsens kl. Museum auf Pellworm. Auch für den Wattführer und Heimatkundler Helmut Bahnsen dürfte Rungholt Lebensinsel sein.

Strom 2:
Der grosze Erzählstrom ist Genesis 6, die Sintflut-Warnung und Genesis 19, der Schwefel von Sodom. Das böse Wasser vertilge das böse Menschenwerk und alles, was ein böser Gott sonst noch geschaffen.
„Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es den HERRN, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Weltweit gibt es etwa 250 Zuflüsse zur groszen Flut-Erzählung. Die Flut der Genesis ist Widerhall des babylonischen Gilgamesch-Epos. Die Flut, die die posthum für sündig erklärte Siedlung, 20 Warften, keine Stadt in unserem Sinne, verschlang war Teil eines groszen Sturm-Geschehens im Januar des Jahres 1362, genannt Marcellus-Flut oder 1. Grote Mandränke.
Auszergewöhnlich waren die Wasserstände, auch nach dem Gezeitenwechsel zog sich das Meer nicht zurück. Kein Deich, keine Warft bot Schutz, auch von der britischen Insel verschwanden Ortschaften.
Der Orkan musz auf auszergewöhnlich geschwächte Gemeinwesen getroffen sein, geschwächt durch Pest, Miszernten, Hunger und Starkregen. Die Rungholter hatten auf Sand gesiedelt, nahe des nur durch Sedimente verfüllten Hevers, einer eiszeitlichen Rinne (vgl. Strom 1). Überdies war der Nordsee-Meeresspiegel infolge einer Klimaerwärmung im 14. Jahrhundert angestiegen.

Was wir denken, existiert, wir hören sogar ein Gieszen und Schlagen von Wellen, es flieszen zusammen Strom 1 und Strom 2, Hever und die Sintflut der Genesis. Ein dritter Flusz mündet, ein junger Strom, bezeichnet erst in jüngster Zeit. Das ist das Menschen-Gemachte der Katastrophe: die Rungholter hatten Raubbau betrieben, sie selbst hatten ihr Land durch Entwässerung und Abbau von Salztorf tiefer gelegt. Das Sieden und der Handel mit dem darin abgelagerten Salz hatte ihnen Wohlstand eingebracht.

Das alles kann der Chronist und Nordstrander Pastor, Pastorensohn und Pastorenvater Anton Heimreich 1666 nicht wissen. Er sieht indes, was wir nicht sehen und gleichwohl gern glauben. In dieser ältesten friesischen Chronik taucht Rungholt das erste Mal auf. Zu Heimreichs Lebzeiten, im Oktober 1634 zerreiszt die Burchadi-Flut grosze Teile der Insel Nordstrand, wird Pellworm abgetrennt. Anton Heimreich über den Grund des Unterganges von Rungholt vor 300 Jahren:
„… man berichtet, daß auff eine zeit etliche muthwillige gäste eine sau mit verlaub, sollen truncken gemachet und zu bette geleget haben, und darauff den prediger lassen ersuchen, er möchte ihrem krancken das Abendmahl reichen, und sich dabey verschworen, daß, wenn er bey seiner ankunfft ihren willen nicht würde erfüllen, sie ihn in den graben stossen wollten. Wie aber der prediger das H. Sacrament nicht so greulich wollen mißbrauchen, und sie sich untereinander besprochen …“
Gesagt, getan. Der Prediger entkommt und ruft seinen Gott an, daß er diese gottlosen Leute wolle strafen. Gott warnte den Pastor und so entkam dieser.

Heimreich kannte solche Menschen, gewisz kannte er sie. Sein Gott hatte es hier besonders schwer, dessen war er sich sicher. Wie oft hatte er ihn angerufen, an seiner groszartigen Schöpfung einige Kleinigkeiten nachzubessern, noch öfter aber schlug er ihm vor, sie, die tumbe, lasterhafte Menschenbrut ganz zu vertilgen von der Erde. Und hatte einer wie er nicht besonders viel Anlasz zu dieser Entschiedenheit? Heimreich stammte aus einer wohlhabenden Pastorenfamilie aus Schleswig, einer Residenz, einem Zentrum von Kultur und Wissenschaft, er studierte in Helmstedt und Leiden, er war viel gereist. Er hatte London gesehen. Und dann schickt ihn seine Kirche 1652 nach Nordstrandischmoor, ein nach seiner Beschreibung armseliger Ort. Nicht einmal eine Kirche stand dort.

Heimreichs Reich als Tableau:
Eine Sau rüsselt in Salzwiesenlandschaft, ernüchtert, in unserer Phantasie hat sie überlebt, graues raues Meer, Wolken, die später ein Nolde malen wird, Sonnenstrahlen sickern eher durch, als dasz sie die Szenerie erhellen. Alle Bilder schwarz-weisz. Nennen wir die Sau ein Symbol für jedermanns Untergang. Jedermann, der Anspruch auf eine Insel erhebt, jedermann, der meint, Inseln seien feste Punkte, anstelle von irrtümlichem Land in unverständlichem Meer. Der Horizont eine Erfindung der Landschaftsmaler. Ebbe und Flut nennt Liliencron ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde, sein Haupt ruht dicht vor Englands Sand, die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Strand, Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen, Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen. Für den landratenden Poeten oder den poetisierenden Landrat Liliencron wird ein beamtetes Meeresmonster mit festen Zuständigkeiten aus dem, der macht, dasz der tiefe See siedet wie ein Topf, den niemand, kühn wie er sei, reizen darf, der alles verachtet, was hoch ist – wie das Buch Hiob erzählt. Gott selbst schuf den Leviathan. Was waren die Insulaner, wenn sie nicht Borsten- und Hornvieh aufzogen und schlachteten – Walfänger, See- und Strandräuber, Märchenerzähler, Touristenführer, Gastronomen. Ambivalent auch die Namen: Die Friesen nennen die Inseln Marschen Halligen vor der Küste UTHLANDE.

Die „Halliggräfin“

Entschiedener ist ein Abschied kaum denkbar: 1910 kaufte Diana Henriette Adelaide Charlotte Gräfin von Reventlow-Criminil die nur einen halben Hektar grosze Hallig Südfall und lebt dort mit Hunden, Pferden und einem Ehepaar, das zu ihrer Bedienung da ist, bis zu ihrem Tode mit 90 im Jahre 1953. Nach ihrem Tod verkauft die chronisch klamme Familie die Insel, heute wohnt dort nur gelegentlich ein Wasserwart und ein Vogelwart.

Nur zwei Roben soll sie getragen haben, auf Gut Emkendorf in Ostholstein, wo sie geboren wurde wie später auf Schlosz Castolovice in Böhmen und dann auf Südfall: eine Tweedkostüm mit weiszer Seidenbluse mit Stehkragen, dazu derbes Schuhwerk. Am Abend ein dunkles hochgeschlossenes Samtkleid mit langen Ärmeln und Schleppe. War ein Stück verschlissen, liesz sie eine genaue Kopie davon anfertigen. Die Abstände haben sich vergröszert. Adjektive wie schön, unnahbar, klug, unkonventionell beschreiben sie, Anekdoten spinnen die sog. Halliggräfin ein, kolportiert von der gräflichen Nichte und von einem gewesenen Insel-Bürgermeister. Diese Halliggräfinnen-Geschichten müszten verschlagwortet werden unter Tapferkeit, Suche nach Sicherheit, Pflichtgefühl.

Hätte das Schlagwort-Register eine zweite, eine subjektive Ebene lauteten sie:
Eine unproduktive, ausbeuterische Klasse, die Männer sind brutale Taugenichtse, die Frauen lebensuntüchtige und naive Schmuckstücke, die bald ihren Diamant-Schmuck verkaufen werden. Lebensstil: Reisen, Jagdgesellschaften, Zeitvertreibe wie Pferdezucht, Repräsentation via Architektur und Mode. Die materielle Basis ihres heimatlichen Gutes Emkendorf: zunächst der transatlantische Sklavenhandel, später das Erbe der angeheirateten britischen Familie Robert Whiteheads, dem Entwickler von Torpedos, todbringend in Weltkrieg eins und zwei.

Unwahrscheinlich, dasz Gräfin Diana sich derley Kategorien vorstellen konnte.
Anekdote 1: Nachdem die Bolschewiki in Russland die Zarenfamilie abknallen, fürchtet man sich. Ganz in der Nähe hatten doch die Matrosen gemeutert. Diana wird gerufen, um Emkendorf zu verteidigen. Der Rest der kl. Familie flieht nach Dänemark, adlige Verwandtschaft in schönen Landsitzen und Schlössern hat man überall. Dasz die Flucht-Kutsche von Norfolk-Grauschimmeln gezogen wird, scheint ein wichtiges Detail zu sein. Spartakisten begegnet man nicht.
Anekdote Nummer zwei: Bei der Sturmflut im Oktober 1936 bleibt die Gräfin bei ihren Pferden im Stall, um beruhigend auf sie einzureden. Das Nordseewasser schwabbt um Bauch von Tier und Mensch. Sie hatte eine Art Gnadenhof für von ihren Besitzern verstoszene Klepper eingerichtet.
Anekdote Nummer drei: Weltkrieg, nachts, auflaufendes Wasser. Die Gräfin hört Flötentöne aus dem Watt und sucht mit einem tragbaren Licht nach der Herkunft der Klänge. Sie findet und rettet einen abgeschossenen englischen Piloten, Englisch ist ihre Muttersprache, Plattdeutsch spricht sie mit den Uthländern. Ein weiszes Tonpfeifchen, gefunden im Watt, hat sie gerufen. Sie nennt das Instrument „Rungholt-Okarina“.