Es geht talwärts, die Elbe hinab. Wie ein Trompeten-Ärmel weitet sich der Flusz. Am Ärmel-Saum, oben Friedrichskoog, unten Cuxhaven, verläuft die Markierung zwischen Unter- und Aussen-Elbe. Eine kühn gezogene Grenze auf Wattboden und im Tidegeschehen angesichts der kaum zu beantwortenden Frage: wo endet ein Flusz?
Eine leichter zu ziehende Linie ergibt sich aus den die Fahrrinne anzeigenden Tonnen. Das offizielle Ende der Elbe behauptet die Kugelbake in Cuxhaven. Doch einstmals, bevor Menschen hier siedelten, spät siedelten sie hier, mündete die Elbe weit drauszen in der Nordsee. Vor Jahrtausenden vereinigten sich in Höhe von Helgoland Elbe und Weser, weit westlich von Sylt läszt sich am Meeresboden noch ein Elbe-Fluszbett orten.
Von oben, als Vogel oder im imaginierten Flugzeug, hat die Auszenelbe eine andere Tönung als die Nordsee. Die Inseln, ob Werder, Sande, Halligen, ob Seeinseln, Fluszinseln oder Meeresinseln, ob Atolle oder Vulkanketten-Inseln in ferneren Gefilden, sie wollen einen glauben machen, sie, die erhabenen, seien von höheren Wesen hier abgeworfen oder hingetupft worden. In der Auszenelbe liegen die Sandbänke Groszer Vogelsand und Gelbsand, die infolge der Elbvertiefungen immer kleiner und kleiner werden. Backbord liegen Neuwerk und Schaarhörn, deren Inselstatus von einigen angezweifelt wird, diese Menschen stufen die Inseln zu Dünen herab.
Ein paar Meilen hinter Schaarhörn sind wir in der Nordsee. Kein Land mehr in Sicht.
Wolkenverhangenes Meer steigert den Auftritt des sonderbaren Felsen namens Helgoland. Weisz-Rot-Grün, der Rest Poeterey: dasz der Name von „heilig“ käme etwa. Wahrscheinlicher ist die Herleitung vom Friesischen Halunder, hohes Land. Dasz es eine Hochsee-Insel sei. Nein, die Insel liegt auf dem Festlandsockel, Schelf genannt und befindet sich auch rechtlich nicht auszerhalb der 12-Meilen-Zone internationaler Gewässer. Insulär ist die Umsatz- und Zollfreiheit. Die dritte Legende knüpft ein Band zum Mittelmeer, zu Platon, der Antike und zu Atlantis. (Und eben deshalb heiszt der Atlantik doch Atlantik.)
„Du, Daggie, lasz uns doch im Altlantis ’ne Kleinigkeit essen. Das sah ganz nett aus …“ Dagmar, genannt Daggie und Sabine, genannt Bine, verbrachten ein verlängertes Wochenende auf Helgoland, Hotel Haus Seeblick, Unterland. Seeluft, viel drauszen sein, entschleunigen und runterschalten, Auszeit, Batterien aufladen, reif für die Insel, sowas. „Gute Idee. Das ist glaube ich der Laden, von dem Manni erzählt hat – obwohl …“
„… der Name ja wenig vertrauensvoll klingt!“
Daggie liesz ihr blechernes Lachen hören. „Hab ich gar nicht dran gedacht. Da war was mit – untergegangene Insel und untergegangene Zivilisation, was?“
„Also ich war auch mal mit IKARUS-Reisen in Griechenland – und wie Du siehst, hab ich’s gut überstanden.“ Dagmar, die eigentlich unternehmungslustigere der beiden Freundinnen, bittet um eine kleine Pause für Augenpflege und wirft sich auf ihr Hotelbett. Sabine verläszt mit äuszerster Behutsamkeit und angehaltenem Atem das Zimmer. Ganz in der Nähe und ebenfalls am Südstrand, wie die Fuszgänger-Strasze hiesz, sind so interessante Buden, sie braucht noch diverse Mitbringsel und etwas Urlaubslektüre auf Vorrat konnte auch nicht schaden.
Links der weisze Strand, kaum Liegende oder Badende, stattdessen mühselig Schreitende, Sabine denkt dies Verb Schreiten, obwohl der warme und nachgiebige Sand viel eher ein Stammeln der Füsze erlaubt. Der Blick der Strandgeher fiel nach unten, Sabine stellt sich den Lichtkegel einer Taschenlampe vor, zwei Schritte vor, ein rasches Bücken und ein langsames Aufrichten, die kleine harte Beute fest im Blick. Es ist von der Promenade aus nicht zu erkennen, was die Insel-Gäste da sammeln: sandgestrahlte Glasscherben, grün und braun und weisz die meisten, manchmal findet sich auch eine blaue oder eine schwarze. Andere stecken Muscheln ein, am liebsten die weiszen herzförmigen oder die geschraubten, die verlassenen Häuser der Schnecken. Miesmuscheln und die dunklen länglichen, die Waffen-Futteralen gleichen, werden seltener eingepackt. Doch die meisten lesen Steine auf, die gesuchtesten sind weisz, organisch geformt und innen feuerrot, gestern hatten sie es im Inselmuseum bestaunt, aufgesägt und geschliffen. Vor eigenen Sprengversuchen wurde ausdrücklich gewarnt. Feuersteine, die es so nur hier gab, hatte das Meer ihnen Löcher beigefügt, hiesz man sie „Hühnergötter“.
Steine aller Farben und Erdzeitalter schleppten Tagesgäste und richtige Urlauber, wie sie beide es waren, fort. Auf wievielen Fensterbänken, Schreibtischen, in Vitrinen und Schubladen wurde das Inselmaterial abgelagert, wann hätten die Touristen, von der die Insel doch lebte, Helgoland abgetragen, heimgetragen, nur mehr die Erinnerung würde bleiben.
Es musz kurz vor 5 sein, gleich würde die Schnellfähre nach Hamburg ablegen, kurz darauf die Fähren nach Büsum und Cuxhaven. Wellen von kurzbehosten, schrillbunten Körpern rollen Richtung Inselspitze, Tagesrucksäcke und Dutyfree-Tüten mit Hochprozentigem schleppend. Viele in beige und vollständig bekleidet.
Neben dem Hotel Meeresblick liegt auf der rechten, der Land-Seite das Hotel Rungholt, auf dessen Terrasse eine Gruppe von rotgesichtigen jungen Leuten sich die Kante gibt. Die Souvenir- und Ansichtskarten-Läden hatten sich bereits geleert und Sabine stöbert in den Körben mit Literatur über Nordsee, Inselwelt und Natur im Inneren eines Kioskes. Ein Möwen-Bestimmungsbuch muszte her, es gab deren mehrere. Noch bevor sie sich entschieden hatte, zieht ein abgegriffenes Buch sie in den Bann, auf dessen Schutzumschlag eine Monsterwelle, gepinselt in allen Schattierungen von purpur, grün, tiefblau und weisz einen goldenen Tempel verschlingt. „Das enträtselte Atlantis“, Autor: Jürgen Spanuth. Das war es! Sie entsann sich der Untergangs- und Suchgeschichte, Atlantis, sagenhaft reich … Die Kioskbetreiberin, die sie in dem vollgestopften Laden noch gar nicht bemerkt hatte, unterbricht sie: „Das Buch ist ein Schatz, eigentlich nur mit weiszen Handschuhen anzufassen“! Auf Sabines fragenden Blick hin, entreiszt sie ihr das Buch. „Das ist seit 1953 kaum mehr aufgelegt worden. Warum wohl nicht. Ich sage Ihnen: weil der Pastor Spanuth aus Bordesholm die Wahrheit über Atlantis rausgefunden hat. Meine Eltern haben ihn noch gekannt, das war einer …“
Sabines Zuhörgesicht mit leicht nach links geneigtem Kopf besänftigt die Insulanerin, die ihr einen Schemel zuweist und sie in Legende und Rätsel-Auflösung unterweist. Das antiquarische Buch stellt sie in ein Bord zwischen ein stumpfschnauziges Hundepaar aus Porzellan und versieht es mit einem unglaubwürdigen Preisschild.
Gegen acht Uhr entschieden sich Dagmar und Sabine für einen Fensterplatz im Restaurant Atlantis auf dem Oberland. Drauszen waren alle Plätze belegt. „Bine, ich vergesz das immer: in Deutschland geht man auch im Urlaub um 6 Uhr abends Essen!“ „Genau. Und was macht man dann?“ Eine junge Frau mit polnischem Akzent bringt die Karte und empfiehlt ihnen die beiden Helgoländer Spezialitäten Hummer und Knieper.
Die beiden haben sich extra so hingesetzt, dasz sie das Aquarium, in dem sich zwei Hummer mit zusammengebundenen Scheren gegenüber sitzen, nicht sehen können.
„Aber ist doch ganz nett hier, oder?“
„Solange der Schwertfisch von der Wand sich nicht runterstürzt und in meinen Nacken bohrt, sicher!“
„Ich pasz auf Dich auf.“
Die Einrichtung des kleinen Lokals läszt erahnen, dasz das Maritime Deko-Programm aus falschen Fischerkugeln, Netzen, Galionsfiguren und Positionsleuchten erst in jüngster Zeit reduziert worden war.
„Ist o.k. Und jedenfalls nicht so steril wie die Restaurants neuerdings.“
„Bine, wo warste vorhin eigentlich so lange? Ich bin nur kurz weggenickt …“
Die Kellnerin trat an ihren Tisch. „Haben die Damen schon gewählt?“
„Wir nehmen beide das Wiener Schnitzel mit Pommes und kl. Salat.“
„Lasz uns anstoszen auf unsern Urlaub auf den Überresten des sagenhaften Altlantis!“ Der Weiszwein ist wunderbar süffig und viel preiswerter als daheim.
„Ja nun sag schon, Bine, was hat es damit auf sich? Atlantis, hier?“
„Unbedingt. Ja. Eine Geschichte aus ganz alter Zeit. Es gab immer Hinweise darauf. Und im Jahr 1952 hat ein Pastor aus der Gegend hier sogar graben lassen – der musz unheimlich was drauf gehabt haben. Archäologie hat er auch studiert. Und konnte Altgriechisch und was nicht noch alles.“
„Ja und? Wär nicht Friesisch hier praktischer gewesen?“
„Na, zum ersten Mal aufgeschrieben wurde das von einem Philosophen namens Platon, Griechenland, so ungefähr 360 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung.“
„Das macht zweitausenddreihundertachtundsiebzig Jahre.“ Dagmar atmete durch die Zähne aus. „Und es kommt noch besser: Platon hatte eine viel ältere ägyptische Überlieferung vorliegen …“
„Wie, der konnte Hieroglyphen lesen?“
Breites Grinsen: „Keine Ahnung. Kann sein es war weiter erzählt, mündlich überliefert heiszt das.“
Ausgerechnet Dagmar und Sabine, den Insel-Urlauberinnen aus der Metropol-Region Berlin, war es bestimmt, den Faden der Oralität, der mündlichen Überlieferung wieder auf zu nehmen und weiter zu spinnen. Um so besser, dasz es ein gebundenes Buch war, das den Anlasz dazu bildete. Und gut möglich, dasz die social-media-Auszeit der beiden die Weitergabe der alten Geschichte beförderte.
„Lasz mich raten: in Atlantis war alles vom Feinsten, also oberstes Regal: Land total fruchtbar. Und Gold und Silber in Mengen!“
„Hundert Punkte!“
„Neben Gold und Silber ist noch die Rede von etwas Drittem, Oreichalkos. Das könnte gut Bernstein sein.“
Die identischen Schnitzel hatten die Form von Amrum, die Pommes schoben sich wie Planken eines havarierten Schiffes an sie heran.
Bine erzählt mit vollem Mund weiter, „Schmeckt’s Dir auch, Hase?“, das Kosewort zeigt an, dasz sie in gehobener Stimmung war.
„Und alles total gut organisiert in dem Staat. Und dann, zack-bumm, alles futsch, untergegangen, perdü.“ Beim zweiten Glas Wein entwarfen sie opulente Untergangsszenarien. Bei jeder Auslöschung – Brand, Erdbeben, Natur-katastrophe dritter Art, Kometeneinschlag, Epidemie, Vernichtungskrieg – behielten sie die Verhältnismäszigkeit im Auge, d.h. sie zogen stets die Verbindung zwischen der Kultur und ihren immateriellen Werten und Vorgängen und dem jähen Ende derselben. Dagmar leuchtete die Verortung noch nicht ganz ein:
„Aber so weit weg vom warmen Griechenland – oder war das damals anders?“
Bine klärte sie auf, dasz Plato weder Athen noch sonst etwas Konkretes erwähnt und daher der Nachwelt ein groszes Rätsel hinterlassen habe. Also sie, Bine, würde sich daheim das Buch von dem Forscher Spanuth einmal ausleihen.
Es war noch nicht einmal neun Uhr und sie waren schon die letzten im Lokal. Wortlos verständigten sie sich über die Wahl des Umweges bis zum Hotel. Die Stille auf den Straszen mit den niedrigen Häusern schien greifbar und fern zugleich. Auf Inseln schlossen sich Kreise, auf Inseln kamen die Menschen auf die kühnsten Ideen. Sie lieszen die Haare flattern und weiteten ihren Blick. Oberhalb des Süd-Hafens erinnerte ein Stein daran, dasz Werner Heisenberg auf Helgoland die entscheidende Idee für die Quantenmechanik kam.
„Was für ein besonderer Ort!“ rief eine der beiden Freundinnen aus und die andere bestätigte die Einschätzung. Besonders war auch, und damit verlassen wir Sabine und Dagmar, um uns den harten Fakten der Inselgeologie zuzuwenden, dasz die beiden den umgekehrten Weg der Schriftgläubigen gegangen waren. Während jene in früher, meist männlicher Jugend einer aus mündlicher Kultur überlieferter Geschichte, Beispiel: homerische Epen oder Biblische Geschichten, absoluten Glauben schenken und später nach diesen Orten suchen – wofür sie verlacht und geliebt werden – gingen Dagmar und Sabine quasi einen Krebsgang, vom Ort über die Schrift zur puren Imagination und wieder zurück. Waren dies nicht die stärksten denkbaren, die stärksten dehnbaren Verbindungen, die einzigen, die imstande waren, im Wort den Ort zu finden, Tatsachen zu umschiffen und die Taue auszuwerfen auf ein unbetretenes und zugleich mythisches Land?
Der Buntsandsteinklotz Helgoland wurde ebenso wie der Lüneburger Kalkberg oder der Segeberger Gipsberg im Erdzeitalter des Tertiär von einem perm-zeitlichen Zechsteinsalzstock in die Höhe gedrückt und dabei schräg gestellt. Auf dem Buntsandstein lagen ursprünglich noch Muschelkalk und Kreide-schichten, die sich auf der Düne daneben besichtigen lassen. „Während der Saale-Eiszeit wurde Helgoland vom Eis überfahren, das dabei Moränenmaterial zurückliesz.“ Karl-Ernst Behre, Landschaftsgeschichte Norddeutsch-lands, Neumünster 2008, S. 28. Es ist wahr: die Insel war einst viel gröszer. Vor der Sturmflut 1712 waren es 18 Quadratkilometer, noch heute ablesbar an der das kleine Eiland umgebenden Felsterrasse.