Anderswo

Hotel-Lektüre

Zum Schreiben von zwei, drei Texten über das Faulenzen, die allg. Arbeitspflicht und den köstlichen Müsziggang habe ich mich in ein schönes Hotel an der Nordsee zurückgezogen. Ich geniesze ein üppiges Frühstück – und besonders, dasz ich danach nichts aufräumen oder gar aufwaschen musz. Das Zimmer ist schön, zweckmäszig und wird gereinigt. Alle sind sehr freundlich. Alle 5 Sterne für das Glück der Müszigkeit und der Musze, der die Musen gern folgen.

Zeitungen bieten die modernen Hotels nicht mehr. Aber zwei Bücher warten in meinem Zimmer auf mich. Eins ist weisz und hat blau-goldene Schrift: „Vom Kopf ins Herz – Erkenntnisse, Tipps, Ideen, Rezepte und Gesetze des Erfolges auf den Punkt gebracht“. Als ich vor einem Jahr für ein paar Tage in einem anderen Hotel weilte, fand ich einen ähnlichen (oder denselben?) Ratgeber vor.

Das zweite Buch gehörte meiner Erinnerung nach früher zur Standardausrüstung von Pensions- und Hotelzimmern, blauer Kunstledereinband, Goldprägung, Dünndruckpapier: Das neue Testament. Eine Spende des internationalen Gideon-bundes in Deutschland e.V., „dieses Buch ist unverkäuflich“.

Der weisze Ratgeber ist übersichtlich gegliedert, pro Seite ein Kapitel, viele Bilder, unter 200 Seiten – auf einigen ist der Text überdruckt mit einem Banner: „Lieber Gast, wir bieten Ihnen exklusiven Leseservice im Hotel. Sie können das Original-Buch für vollen Lesegenuß an der Rezeption oder im Shop erwerben. Dieses Buch ist Eigentum des Hotels.“

Ich lasse es gern da. Es interessiert mich, was der Ratgeber „Vom Kopf ins Herz“ zu meinem Thema sagt. Was sollen Hotelgästinnen erfahren über freie Zeit und Arbeit und Nichtstun? Einschlägig der Abschnitt auf Seite 26.

„Wenn ich Details toleriere, ist das der Anfang vom Ende.“ (Ralph Krüger, Schweizer Hockey-Nationalmannschafts-Trainer)

Eiserne Disziplin ist einer deiner Hauptschlüssel zum Erfolg. In dem Moment, wo Du anfängst, selbst in kleinsten Dingen lasch und nachgiebig zu werden, nistet sich in Deinem Unterbewusztsein unweigerlich der erste, gemeine Erfolgs-verhinderer ein! Ein kleiner, unscheinbarer Tyrann, der es blendend versteht, deine Motivation von Tag zu Tag mehr zu sabotieren, bis sie eines Tages voll-kommen zerstört, zu einem kleinen Haufen Elend verkümmert, am Boden liegt. Darum sollst du dir ja kleine, erreichbare Zwischenziele setzen, weil du diese konsequenter anpacken und durchziehen kannst.

Nimm dir täglich nur eine einzige Stufe vor. Arbeite diszipliniert und höre nie auf, bevor du sie erfüllt hast!

Teste selber: „Welches Gefühl hast du, wenn du am Ende des Tages zurückschaust und siehst, dass du konsequent verwirklicht hast, was du dir vorgenommen hattest? Kommt da nicht ein wenig Stolz auf? Und wie wirkt sich dies auf dein Selbstvertrauen aus?“

Ein eisernes Gehäuse der Pflicht ohne Pflicht, die Pflicht ist irgendwo ins Innere verpflanzt worden. Die Motivation knallt mit der Peitsche. Nietzsche fällt mir ein, er sprach irgendwo von der Arbeit als der besten Polizei.

Weiten wir etwas den Blick. Was weisz Kopf-Herz über die Gesellschaft?

S. 122: „Kennst Du den Spruch: „Die Reichen werden reicher, die Armen immer ärmer?“ Warum? Weil beides, Reichtum und Armut, eine Frage innerer Einstellung und nicht äuszerer Umstände sind. Der Reiche muss seinen Reichtum genauso täglich „verteidigen“ wie der Arme seine Armut. Die gewünschte Veränderung aber kann nur von innen kommen. (…)“

Reichtum und Armut sind gottgegeben, das ist eine jahrhundertealte Kirchenlehre. Die Einsicht hat etwas ungeheuer Beruhigendes, ja Kuscheliges. Natürlich musz den Armen geholfen werden, Einschränkungen vorbehalten. Aber insgesamt ist die Welt in Ordnung, Ungleichheit ist eingepreist.

Schon der Kirchenvater Augustinus hatte Gott die Macht der Prädestination zugeschrieben. Also: die Schicksale der Menschen sind vorherbestimmt.

Die Lehre von der GNADE widerspricht. Spricht Gott andere Qualitäten zu.

Im 17. und 18. Jahrhundert kam in calvinistischen Kreisen die Idee auf, Erfolg sei Ausdruck von Gottes Segen. Diese Auffassung befördert zweifellos die Ökonomie und die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte. Sie steht aber leider dem freien Willen der Menschen entgegen.

Im Hotelratgeber gibt es keinen Gott. Demzufolge auch keine Gnade. Die Prädestination ist in die Verantwortung der Menschen gefallen. Sie entscheiden qua Einstellung über ihren Ort in der Welt. An die Stelle Gottes ist der freie Wille des Einzelnen getreten. Das ist sehr, sehr anstrengend.

Ich blättere weiter und finde einen Widerspruch zu dieser harten Arbeit am Selbst und am Innen. Ist es einer?

S. 49: „Das größte Warenhaus? Das Universum!“ (Bärbel Mohr):

Es gibt nur ein „Warenhaus“, in dem Du wirklich alles bestellen kannst, was du dir wünschst: „Das Universum!“ Da kannst du bestellen, was dein Herz begehrt und wenn du es richtig machst, wird sogar geliefert. Eines solltest du aber unbedingt beachten: „Eine Bestellung muss klar und eindeutig sein, sonst wird es für die fleißigen Wesen in der Spedition schwierig, dir das richtige zu liefern.“

Vom Bezahlen ist hier gar nicht die Rede. Aus Beten oder Wünschen ist „Bestellen“ geworden.  Gott gleich Universum gleich Warenhaus. Eine Religion ohne Gott, nein, mit dem Gott des Kapitalismus. (Allerdings dem Kapitalismus der vorletzten Jahrhundertwende, als Kathedralen des Konsums entstanden.)

Wer falsch bestellt, kriegt trash geliefert. Alle Menschen sind Kunden. Aber eben auch Verkäufer. Das lernen wir auf Seite 117 – „Die Geschichte einer Orange“. Story: ein Schüler hat im Auftrag seines Meisters versucht, auf dem Markt Orangen zu kaufen. Er verkaufte keine und kam demotiviert zurück. Der Meister hat einen Rat für ihn.

„Was kommt bei Dir heraus, wenn Du unter Druck bist? Damit Liebe herauskommen kann, musst du erst dich selbst lieben und akzeptieren lernen. Ein Satz, der dir dabei helfen kann, ist die Suggestion: „Ich liebe und akzeptiere mich.“ Sprich ihn 6 Monate lang jeden Tag 50 mal laut und deutlich vor dich hin und freue dich!“

Das ist mir zu anstrengend.

Das Buch „Vom Kopf ins Herz“ ist ein Bestseller, ein „Motivations-Bestseller“, ich lese das immer wieder, bestimmt 50 mal. Der Autor Bühler ist Schweizer, ein Meister der kurzen Form und des Breittretens von kleinen Gedanken. Er stellt sich selbst vor als Mental-Trainer, als Coach, als Persönlichkeitstrainer, als NLP-Trainer. Ich lese, dasz es eine Kooperation mit 2.000 Hotels gibt. Wenn in jedem Hotel 50 Zimmer sind (soviel hat meine Bleibe), gibt das schon 100.000 Exemplare – plus die Schaustücke in Restaurant und Rezeption.

Wie konnte das passieren?

Ich habe nur diese Erklärung: Motivations-Seminare haben Management und MitarbeiterInnen Blaues vom Himmel und Goldenes Glück versprochen. Leider gab’s dann ich echt nur Screenshots, Katzengold und einen steilen, steinigen Weg, der lächelnd bezwungen werden musz.

Das Lächeln an Rezeption und im Frühstücksraum hat an Wert verloren.

Nun zum zweiten Buch. Auch genannt: Buch der Bücher. Wenn auch nur das halbe, der neuere Teil. (Das Psycho-Optimierungs-Buch war der 1. Band, dies ist also der 2.) Was schreibt das neue Testament über Arbeit und Leben?

Zwei Passagen fallen mir ein, bevor ich das Buch aufschlage. Die eine, die übrigens historisch ältere, ist über die Maszen beliebt bei Politikern aller Couleur, bei Leuten, die sich ihrer Rackerei rühmen und Hasz und Verachtung pflegen gegenüber den Anderen, die ein anderes Leben führen.

Das ist eine Passage aus dem zweiten Brief Paulus‘ an die Thessalonicher, 3,6 bis 12. Text der Lutherbibel, revidierte Fassung von 1984:

„Wir gebieten Euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr euch zurückzieht von jedem Bruder, der unordentlich lebt und nicht nach der Lehre, die ihr von uns empfangen habt. Denn ihr wisset, wie ihr uns nachfolgen sollt. Denn wir haben nicht unordentlich bei euch gelebt, haben auch nicht umsonst Brot von jemandem genommen, sondern mit Mühe und Plage haben wir Tag und Nacht gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen. Nicht, dass wir dazu nicht das Recht hätten, sondern wir wollten uns selbst euch zum Vorbild geben, damit ihr uns nachfolgt. Denn schon als wir bei euch waren, geboten wir euch: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Denn wir hören, dass einige unter Euch unordentlich leben und nichts arbeiten, sondern unnütze Dinge treiben. Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie in dem Herrn Jesus Christus, dass sie still ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen.“

Ich habe extra die Verse drum herum abgeschrieben. Wegen des Kontextes.

Dazu sollte ich auch noch erwähnen, dasz die Briefe des Apostel Paulus „allgemeine Mahn- und Lehrschreiben“ an verschiedene Gemeinden sind, die er zum Teil selbst gegründet hat. Nicht relevant ist hier m.E. dasz der 2. Brief höchstwahrscheinlich nicht von Paulus selbst ist, sondern von einem anonymen Autor, der versuchte, Paulus abzupinnen. (Offenbar nicht gut genug für die theo-logische Forschung.) Auch eingewandt wird, dasz der Arbeitsbegriff im ersten nachchristlichen Jahrhundert – Sprache (alt)Griechisch – ein anderer war als heute. Etwa ausgesprochen: Ellwon. Sicher, es ging nicht ums Anhäufen von Gütern, es ging ums Tagewerk, es ging ums Überleben. Das Leben war Mühsal. Für die meisten jedenfalls.

Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.

Eine Ohrfeige ist das. Ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf. Ein Tritt in den leeren Magen. Wer nicht arbeiten will … Das wird immer und völlig korrekt zur Christentums-Verteidigung vorgebracht.

Die Arbeits-Apologeten und Theologen, die Arbeits-Vergötterer zitieren meist falsch: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Lebensrecht also doch auch für Säuglinge, Kleinkinder, Greise, schwer Kranke. Alle anderen können doch wollen, sollten wollen. Und Sklaven brauchen nicht zu wollen. Die brauchen wir auch für all die schlimmen Arbeiten.

Das sind die saftigen Auen, auf denen Sanktionen gegen säumige Arbeitslose gedeihen, auf denen nach jedem Herbstregen die Giftpilze der Arbeitspflicht gedeihen. Arbeiten für die Gemeinschaft. Wie schön wäre es doch, wenn die Unnützen, vom Arbeitsmarkt ausgesonderten oder sonstwie Sonderbaren die Strasze kehren würden. Praktisch wäre ein Button zum Anstecken: ich will arbeiten. Hübscher gestaltet als die Schilder vorzeiten, vor 100 Jahren: „Nehme jede Arbeit an.“

Ich seufze laut in meinem Hotelzimmer. Vor Paulus musz das Leben in Thessaloniki sehr schön gewesen sein.

Gleich vornean in der Schrift die Passage, mit der ich die Flasche verkorken werde: Mathäus 6,26 (geschrieben 80 u.Z.): „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“