Alltag

Grafen von W. halten zu Gnaden

Möglicherweise hatte Jona den Traumfänger falsch installiert.
Seit einigen Wochen glichen die Träume Tunneln mit verriegelten Notausgängen. Die Gänge bekamen von irgendwoher Licht, spärliches Licht, das auf eingelassene Spiegelscherben fiel; schon in diesem Traum-Tunnel meinte Jona, dies ist ein Traum, der mich eingefangen hat. Dies ist ein Traum, der Spuren von Wirklichkeit enthält, das sollen mir die Spiegelscherben sagen. Ich kann mich nur nicht spiegeln in ihnen, weil es so schnell geht. Ich so schnell gehe. Hinaus geht es nirgends. Erst beim Aufwachen übersetzte sich der Tunnel-Gang in Angst.

Kurz zuvor floh der Schlaf Jona noch auf eine niederträchtige Weise. Der Schlaf: ein Fliegender Teppich, unmöglich, ihn zum Landen zwingen zu wollen. Doch immer, wenn Jona meinte, die Fransen davon auszumachen, verwandelte sich der Teppich in eine brausende Drohne, die senkrecht aufstieg.
Zu den vielen empfohlenen Schlaf-Mitteln gehörte auch das vor dem Fenster vibrierende Objekt aus Reifen, Bändern und Federn. Jona wollte danach greifen und es entzog sich ebenfalls. Der Tunnel führte zu einem Laden. Zwei Stufen, ein Messingknauf, in Frakturschrift Landmandel oder Landtandel oder Landhandel, eine Glocke schlägt an. Der Tresen ist über 50 Meter lang oder länger, auf den Enden lagern Stoffballen. Sperlinge hüpfen auf ihnen herum. Die Wände sind mit Gobelins bedeckt, keine Geschichte wird zuende erzählt, die Bilder hängen übereinander. Im Ladenlokal liesze sich zwischen den Holzstangen Slalom laufen. An deren Spitze, die Wolken berührend, stecken Wappen. Vor und hinter dem Tresen stehen Regale, die überfüllt sind mit Gemälden, Fayencen, silbernen Pokalen jeder Machart, blitzenden Degen und rostigen Langwaffen. Es tritt ein bauchiger Mann mit blauer Schürze auf. Über dem Mondgesicht ein eiserner Helm mit hoch-geschobenem Visier vorn und einem roten Federbüschel hinten.
Jona fragt: „Ist das geraubt?“
„Ich verkaufe nichts.“
„Ein Laden, der nichts verkauft? Und Sie?“
„Ich handele nur im Auftrag.“
„Und die Dinge?“
„Sind nur Beiwerk.“
„Wofür?“
„Für was Sie wollen.“

So ging es hin und her zwischen Jona im Pyjama und dem Kaufmann mit Schürze und irgendwann einigte man sich darauf, sich in einer Auszenstelle des Museums des Deutschen Adels zu befinden. Die privat betriebene Zentralstelle war in einer bedeutenden Residenzstadt. Von Zeit zu Zeit wurde man von dort visitiert, von Zeit zu Zeit reiste ein Auszenstellen-Angestellter in die Zentrale, um abgelaufene Pfänder einzusammeln und hierher zu verbringen.

„Richtig, bezahlt wird mit Kronen.“
„Aber Sie sagten doch, dasz hier nichts verkauft wird?“
Der Ladenmann, der ein Museumsmann sein wollte, verschluckte sich an eigener Luft oder Spucke, hielt sich am Tresen fest:
„Gegenwärtig, also bis auf Weiteres ist das so, kann man so sagen …“
„Aha. Es gibt also so etwas wie Bückware. Und in früheren Zeiten, als der Plunder hier neuwertig war, da wurde auch gedealt.“
„Ge-was?“
„Gehandelt, verhökert.“
„Mag sein. Aber ich bin hier erst seit knapp 300 Jahren. Nur in Vertretung. Und Procura habe ich auch nicht.“

Jetzt liesz sich Jona ein paar der Schätze zeigen. Der Verkäufer, der keiner war, störte sich nicht im Geringsten an Jonas abfälliger Rede. Das konnte an seiner jahrhundertelang gestählten Verkäufer-Seele liegen. Oder an Jonas Interesse an den Objekt-Beziehungen, den Fäden und Tauen zwischen den Dingen in Auslage bzw. Ausstellung und vergangener Zeit.

Auf die Frage, warum „der Plunder“ nicht zeitlich sortiert sei, blieb der Waren-Keeper die Antwort schuldig. Entweder, weil er die Frage nicht verstand oder weil er nicht berechtigt war, zu antworten. Er schien das riesige Lager allein zu hüten.

„Sehen Sie, dort geht es zu den Hallen mit den sperrigeren und widerspenstigen Objekten. Wenn Sie wollen, schliesze ich vorn ab und wir schauen uns einmal bei Landhandel I um.“ Woraufhin Jona eine geheime Chronologie vermutete.

Die Halle war von innen ein weiszes Zelt. Stangen steckten in nackter Erde. Die Erde war recht regelmäszig gewölbt, die Stangen waren unregelmäszig verteilt. Warum wuchs hier nichts? Jona folgte dem Blick des Aussenstellen-Leiters. Oben auf den Stangen waren wieder Wappen zu erkennen – es wimmelte auf ihnen.
Denn Tiere bevölkerten ja die meisten von ihnen.
„Probieren Sie mal: einmal kurz gegen den Stecken schlagen, dann ist kurz Ruhe!“
Tatsächlich: Für einen Moment hielten sie inne: die Schwäne, Widder, Hirsche, Hähne, die Adler, Löwen, Ochsen, Pferde und Bären, die Mischwesen, die Einhörner und Lindwurme, die Kraniche und Adler, manche hatten zwei Köpfe.
Dann wimmelten und flatterten sie wieder, sie buckelten und stiegen, schlugen mit Tatzen oder Hufen.
„Manchmal fliegen die Adler über alles hinweg, einfach erhaben …“
„Aber ist das nicht gefährlich …“
„Aber nein. Es sind ja nur Symbol-Bilder. Aber schauen Sie da: von den beiden Löwen, die hier als Wappenhalter dienen, verläszt nur einer das Gesamtwappen, da, der linke!“
Jona hatte das gesehen und verstanden. Liesz die Erde durch die Finger rinnen. Seltsam war sie: hier gelber Sand, die andere Hand brachte schwarze Erde hervor. Wie Marmorkuchen. Oder wie bei der Beerdigung neulich, eine richtige Be-Erdigung, albern war die Rede von „Staub zu Staub“ angesichts des protzigen Eichensargs. Und dann sollte diese Mixtur aus Spielzeugsand und Komposterde in einen Kunstrasen-behängten Schacht geworfen werden.
Nicht einmal Kunstrasen gab es hier.
„Warum ist die Erde so … so komisch?“
„Weil’s keine Erde ist. Das ist nur das Exponat Erde. Ein Verweis. Wir sind hier ja am Anfang der Geschichte, die wir hier erzählen. In der Auszenstelle Landau, das war Zufall, wird die Geschichte davor erzählt, Landnahme und so.“
„Erzählen Sie weiter!“
„Nun, hier geht es imgrunde von Adelsbildung bis Ausverkauf.“

Es dürfte schon deutlich geworden sein, dasz Jonas Interesse am Phänomen Adel wie auch an alten Geschichten immer sehr begrenzt war. Es schien jemand an die Ladentür geklopft zu haben, der Wächter liesz Jona allein in der Halle I. „Ja, Sie dürfen sich umschauen. Bin gleich wieder da.“
Irgendetwas finden, ohne zu wissen, was genau es ist.

Gummiestiefel, das wären die richtigen Fuszumgebungen. Ungewohnt ist die Un-Ebene, das ungleichmäszige Eindringen und die spitzigen Angriffe auf Fuszsohle, Knöchel und Zehen. Es piekt, es spitzt, es ratscht. Kein Grund, stehen zu bleiben. Die Halle scheint sich zu weiten. Die Füsze färben sich rot, ein Schmerz ist nicht feststellbar. Jona blickte nach oben: hier waren keine Schilder auf die Stecken gesteckt. Jona fühlte sich erklärungsbedürftig.
Jona blickte auf Seitenwände und in die Luft. Das konnte doch nun wirklich nicht sein! Nach einer kl. Ewigkeit kehrte der Wächter zurück. „Doch doch. So ist es. Das ist dieser ganz besondre Saft – drauszen an der Pumpe können Sie‘s abwaschen. Wieso? Was meinen Sie?“

Jona meinte gar nichts. Die Schlieren auf den Knöcheln waren ein Vorhang.
Der Wärter: „Wollen Sie’s sehen?“
Jona: „Wenn ich schon mal hier bin!“
Der Wärter betätigte einen Taster. Es hob sich ein Vorhang. Eine Leinwand belebte sich.

Eine dunkle Kutsche hielt vor einem Podest mit hohem Gestänge, darum herum wogt eine aufgeregte Menge mit aufgereckten Stangen und Bajonetten, an einigen flattern Dreispitze. Trommelwirbel und Anfeuerungsrufe. Gesänge. Allgemeines Gejubel, wieder Trommelwirbel. Der übertönt die Worte des Gefesselten, der auf die Bühne mit dem Gestell gezerrt wird. Er will zum Volk sprechen, das aber fordert sein Leben. Nächstes Bild: ein Mann in gelber Kniebundhose und mit wallenden Rockschöszen präsentiert den abgeschlagenen Kopf, sein Haarschopf ist der Henkel. Der Jubel brandet auf und fadet nur sehr langsam aus. Der Kopf blutet, der kopflose Körper blutet. Ein Weidenkorb steht bereit.
Jona hat das Bild schon einmal gesehen, würde es sich aber nicht in die Wohnung hängen.

Kommentar: Die Lilien der Bourbonen lagen im Staub.
Beobachtung: Der Geruch der Lilien ist stärker als Blut und Trommelwirbel.

Wärter und Jona gehen noch ein wenig weiter. Ins übernächste Jahrhundert. Neues Rot lagert sich ab an Jonas Füszen. An den Sicherheitsschuhen des Wärters scheint sich nichts abzulagern.

„Das musz wieder rauf, das Wappen.“ Und schon machte sich der Wärter an Schild und Stecken zu schaffen. Ein doppelköpfiger Adler mit Zepter und Reichsapfel, ein weiszes Pferd, ein Drache, durchbohrt von einer Lanze, ein Ritter in Rüstung. Darum herum viele weitere Wappen, sie alle entschweben gerade in die Höhe.

Nicht viele Wappen erzählen eine Geschichte. Diese ist zuende. Drachen sind ausgestorben, was sie unsterblich gemacht hat. Das weisze Pferd ist Hauptgewinn. Die Ritterrüstung leer. Das Wappen der Romanows scheint ganz frisch vergoldet und poliert zu sein. Wiederum wurde projiziert. Der Vorhang gibt frei: zuerst einen Kellerraum. Einen feinen mit Tapete. Tapete, Putz und die Holzverkleidung dahinter ist zerstört, wie mit einer Axt herausgerissen. Dann ein Flashback und ein Splatter-Movie. Immer wieder die gleiche Szene: die Täter sind nicht zu erkennen, nur Uniformteile. Der Zar, seine Ehefrau, die fünf Kinder, der Arzt der Familie und drei Bedienstete werden mit sehr vielen Kugeln erschossen und dann mit Bajonetten erstochen. Ein hinzugezogener Fernsehkrimi-Pathologe spricht von Übertötung.

„Darf ich Sie was fragen?“ Der Wärter nickte.
„Hatten Sie nicht vorhin gesagt, dasz das hier zum Deutschen Adelsmuseum gehört?“
Irgendwie vibrierte der Helmbusch des Mannes, sein Kugelbauch hingegen nicht.
„Das ist korrekt. Wobei wir natürlich viel mehr sind. Mehr als … Da gehen wir ganz mit der Zeit.“
„Und die Besucher? Ich bin ja nur zufällig hier vorbeigekommen, mein Traumfänger …“
„Wissen Sie, das sind uns ja die liebsten Besucher!“
„Dann darf ich nach den unlieben Besuchern fragen?“
Der Wärter stapfte los zum Ausgang –
„Hier geht es entlang zur Pumpe!“
Die Betätigung der Pumpe bereitete Jona viel Freude. Hellrotes Wasser flosz ordentlich in ein Siel.
„In letzter Zeit viele Russen. Wieso? Das lag früher immer an den verwandtschaftlichen Beziehungen, im europäischen Hochadel waren alle mit allen verwandt, der letzte deutsche Kaiser war Onkel dritten Grades des letzten russischen Zaren.“
„Aha, das ist das mehr als … Deutscher Adel …“
„Auch. Und jetzt kommen sie mit kleinen Gefäszen, Tupperdosen, Marmeladen-gläsern, sowas und meinen, ich sehe das nicht. Dann wollen sie sich was abfüllen von der Erde unter dem Wappen mit dem Hlg. Georg und dem doppelköpfigen Adler – meistens vergessen sie ein Schäufelchen oder einen Löffel. Ich sehe es an ihren Händen.“
Die Halle von Landhandel eins lag nun hinter ihnen.
„Mir schwirrt schon ein wenig der Kopf. Ist Erde nun Erde oder ist es Land? Oder Boden? Oder Grund? Oder nur, wie Sie sagten Exponat und nur ein Verweis?“

Pause

„Ein weites Feld. Die russischen Besucher meinen, dasz es Heilerde sei. Die Familie wurde vor 20 Jahren als Märtyer heilig gesprochen. Der Ort der Hinrichtung ist Wallfahrtsort. Heil-Ort.“
„Und Deutschland?“
„Hier gab es viele Heilbäder, in denen sich der Hochadel begegnete, conversierte, re-creierte. Spielbank, Kurpark, Heilwässerchen in Tempelchen trinken. Blutbäder daher weniger.“ Jetzt lachte der Wärter und er lachte wie einer, der es gewohnt ist, dasz niemand mit ihm lacht.

„Bitte, Sie dürfen gern noch mehr fragen!“
„Landhandel eins. Wunderschön die lebendigen Wappen. Die hätten aber doch auch auf einer Tafel kleben können oder vom Himmel hängen etc.pp.“
„Bei Ihnen geht ja auch alles durcheinander: Land und Erde und Boden und Grund und und. Stellen sie sich vor: Adel und Land, das ist wie Ebbe und Flut oder Max und Moritz.
Die Macht des Adels stammt von der über das Land, das Land mit Mann und Maus und vor allem mit den Früchten des Bodens. Verkürzt: Mit der schwindenden Bedeutung der Landwirtschaft schwindet die Macht des Adels. Ich musz mal eben in den Laden, Kundschaft.“

Da stand ein Stock und Jona führte ihn und auf dem Sandboden zeichnete er die Formel dafür: Adel war Alpha und Macht Beta und Landwirtschaft Gamma und Beta nahm mit Gamma ab. Das wäre doch eine gute Leuchtüberschrift für die Halle mit dem Flügelrauschen der Adler, dem betäubenden Lilienduft, dem durchbohrten und immer noch zuckenden Drachen und den Hinrichtungs-Spuren.

Am hinteren Ausgang des Ladens hing keine Glocke, sondern ein Traumfänger, der bis auf die Feder Jonas daheim glich. Jona legte die flache Rechte dagegen. Das war es. Augenblicklich wechselte die Szenerie.

„Sehr gern berate ich Sie beim Aufbau einer kleinen und exquisiten Kunststammlung.“ Graf Wartenberg klang korrekt, zuvorkommend und, das wollte er auf jeden Fall vermeiden, nicht diensteifrig oder vertraulich. Ein Rückruf war vereinbart worden. Er hatte um einen Anruf um 17 Uhr gebeten. Der Château Gombaude-Guillot atmete vor sich hin, die Urkunde „Freiherr von Wartenberg“ hatte Passepartout und schlichten Eichenrahmen bekommen. Zwei Namen hatte er nun, einen bürgerlichen Geburtsnamen und einen erworbenen Adelsnamen.
Eigentlich hatte es wenige in seinem sozialen Umfeld erstaunt. Der Graf liesz seine Blicke über seine Kunstbibliothek schweifen, etliche der Bücher hatte er selbst verfaszt und verlegt und er hielt inne, da die Hebung in der Stimme der Anruferin eine Frage signalisierte und also von ihm, Graf Wartenberg, eine Antwort erwartet wurde. An derley Situationen in seinem früheren beruflichen Umfeld gewöhnt, plauderte er von einer unlängst gesehenen Ausstellung in L. und wie er der unerfahrenen Galeristin eine ganze Reihe von Arbeiten eines australischen Künstlers, eines wahrlich aufgehenden Sterns, weit unter Wert abgehandelt habe.
Hatte es ihn irritiert, dasz kaum jemand irritiert war ob seiner neuen gräflichen Existenz? Das war das erste gewichtige Argument: er war immer seinen Weg gegangen, Kommentierungen von der Seite nahm er allenfalls amüsiert zur Kenntnis. Beruflich hatte er fast alles erreicht, privat ohnehin. Seine Altersbezüge
reichten für ein höchst angenehmes Leben in eigenem Loft und einem Ferienhaus im europäischen Ausland. Einschränkend ist hier zu sagen, und der Graf hätte hier keinesfalls widersprochen, dasz er nie ein guter Haushalter war. Konzepte von Sparsamkeit oder Bescheidenheit hatten ihm nie eingeleuchtet. Auch in dieser kleinen menschlichen Schwäche fühlte er sich dem luxusverliebten und dadurch stilbildenden Adel verbunden.

Ein paar lukrative Aufträge nahm er auch jetzt als Privatier noch an, es liesz seine Kunstsammlung weiter wachsen. Wie alle gebildeten und hoch-empfindsamen Menschen kannte er Momente, in denen diese seine Sammlung der einzige Quell von Lebensfreude war.
Und ihn, wie auch seine zweite Ehefrau hatte es immer wieder verwundert, froh verwundert, wie sehr alte Familienphotos, insbesondere die mit ihren drei kleinen faltenreichen, stumpfnasigen und kurzohrigen Hunden, den Ansichten und Selbst-Inszenierungen von Adelsfamilien im 18. und 19. Jahrhundert ähnelten.
Ein Pro-Argument kam von einer früheren Arbeitskollegin seiner Frau, sie diskutierten es lange. War es nicht unabweisbar, dasz man sich als ganz normaler Deutscher in diesem Land mehr und mehr fremd fühlte? Eigentum war gut, am besten ein geschütztes Grundstück. Und ein positiver Bezug auf Traditionen. Die endeten für die beiden neu-geadelten keineswegs an engen nationalstaatlichen Grenzen – sie hatten sich durchaus als Bekenntnis zum alten Europa einige schottische Lord- und Lady-Titel zugelegt. Die waren gekoppelt an den Erwerb eines kleinen Stückchens Land in den Highlands. Eines allerdings sehr kleinen Fleckens, gerade grosz genug, um darauf zu stehen. Die Idee, dasz man damit zum Erhalt eines einzigartigen Naturreservates beitrug, machte dies allerdings mehr als wett.
Was stand noch auf der Haben-Seite? Verbundenheit. Ein positiver Bezug auf ein uraltes Geschlecht derer von Wartenberg, viele Linien mit noch mehr Seitenlinien und einem Strausz blühender Geschichten. Stoff für Dramen und Romane, die er eines Tages schreiben wollte.

„Einsam erscheinen uns die Bewohner von Räumen ohne Kunst.“ Die Gesellschaftliche Relevanz von Kunst ist eine doppelte.
Die potentielle Kundin schien doch noch sehr unentschlossen. Die Leute wollten an die Hand genommen werden. Sie waren unsicher in allen nicht-praktischen Lebensbereichen. Es fehlte an ästhetischer und allgemeiner Bildung. An echtem Selbstbewusztsein. Unwillig reagierte der Graf auf den Begriff „Coach“.
„Gewisz kann ich Ihnen beratend zur Seite stehen. Aber dafür musz ich mehr wissen – ja, auch über Ihr Heim. Nein, keine Hausbesuche …“

Als Jurist wuszte der Graf um die rechtliche Relevanz des Titels: sein Grafentitel war privat wie geschäftlich nutzbar, als Künstlername konnte er auch in Pasz und Personalausweis eingetragen werden. Um einen vollumfänglichen Adelstitel zu besitzen, bedurfte es nach wie vor der Adoption oder Eheschlieszung.

Die zukünftigen Grafen hatten sich amüsiert den „Lieferumfang“ der Adelstitel auf dem Online-Marktplatz vorgelesen: 1 Ernennungsurkunde mit echtem Adhesiv-Siegel, 1 Infoheft über Ihren Titel und der Burg (sic), 1 VIP-CARD Karton (Miniurkunde für die Brieftasche), 1 Wappen zur privaten & geschäftlichen Nutzung – Wappenrecht .

Das Wappen war wenig anspruchs- oder phantasievoll. Helmbusch in Gold und Blau, darin ein Ordens-ähnlicher Stern. Die Inschrift wies ihn als Anspielung an den russischen Weiszen Adlerorden (der ursprünglich polnisch war) aus, lateinisch: Pro fide, rege et lege. Deutsch: Für den Glauben, den König, das Gesetz. Kein Adler weit und breit. Der mag entbehrlich sein, ziehen doch genug in den schottischen, deutschen und sicherlich auch polnischen Naturschutz-gebieten ihre Bahnen. Glaube und Gesetz waren Zaubertafeln, beschreibbar und überschreibbar nach Gusto. Drei Beine machen einen Hocker solide. Wo aber ist der König, der das Ganze stützt? In alten Zeiten verlieh der König die Adelstitel.
Gegenargument: Emanzipation. Alle haben sich emanzipiert. Auch der Adel. Längst hat die Geldwirtschaft die Feudalwirtschaft abgelöst. Und in der Digitalwirtschaft sind es die Plattformen, über die innovative Neu- oder Alt-Adlige Titel gegen ein geringes Entgelt vervielfältigen. Hier: die UL Congregation Schweinfurt, gegründet 2004.

Wir sind viele. Wir alle sind viele. Der Adel kaufte und sammelte Kunst. Und jetzt ist es an der Zeit, dasz die Kunstsammler Adelstitel kaufen. Sie sind fast echt.

Zur gleichen gegenwärtigen und komplett imaginierten Zeit schreibt der kleine Max einen Aufsatz. Musz der kleine Max einen Aufsatz schreiben. Bereitet sich der kleine Max, der aber in echt Maximilian heiszt, was Mode- oder familiär begründet sein kann, auf das Verfassen eines Schulaufsatzes in Nachbereitung eines Schulausfluges vor. Der Aufsatz heiszt allerdings Essay und die Aufgabe klingt verdächtig nach abgelegten Zeiten und Schülerbeschäftigung und Wiederbezähmung nach den groszen Ferien: Mein schönstes Ferienerlebnis.
„Echt jetzt?“ hatte Max ausgerufen. Zum soundsovielten Male erklärte die Lehrkraft, dasz Max mit den eigenen Fotos vom Kloster Ettal und eigenen Recherchen ein Portrait schreiben solle. Und das „über die Jahrhunderte“.
„Kann ich nicht lieber etwas anderes machen?“ Auf die pädagogische Frage “Was möchtest Du denn machen?“ kam nur eine sehr freche Antwort. Der Vorschlag von oben wurde durch die Anregung, hier auch „eigene Gedanken einflieszen zu lassen“ nur noch unzumutbarer. Max hatte wie eigentlich immer die mieseste Karte gezogen.
Ja, die Klasse war auf sog. „Studienfahrt“ in Oberbayern gewesen. Eine Landschaft, die „lieblich“ mit Bauten, die „bedeutend“ waren. Das Adjektiv von Ettal war „weltbekannt“. Niemand aus Klasse und Clique hatte je davon gehört.

„Ey Du Spast: ich musz über Kindheit und Jugend im 18. Jahrhundert schreiben. Willste tauschen, willste nicht.“ Nun war Willibald allerdings auch ein Studienratssohn mit Strebergen, ein schlichteres Projekt hätte gewisz familiäres Murren generiert.
Eventuell kam Max selbst drauf. Man könnte damit anfangen, sich zu fragen, wo diese angebliche Weltberühmtheit denn herkomme. Von zu Hause war da keine Hilfe zu erwarten. Blosz dieses ewige: Mach Dir einen Plan, erst einen Zeitplan, wann ist deadline? Teile die Fakten in drei Gruppen ein, dann priorisiere. Dann die Gliederung, dann füllst Du die Felder einfach nur noch aus, je drei Sätze genügen. Konnte Mutti ja gern den lieben langen Tag machen und viele Leben retten, ihn sollte sie doch lieber in Ruhe lassen.
Ganz allein sasz der kleine Max vor dem groszen bunten Kloster Ettal und eins, zwei, drei – also insgesamt acht Jahrhunderten.
Das schönste Foto war sowieso das Luftbild. Noch besser sah man es in einer Zeichnung: Ein Kreis mit einem kleineren Kreis dran. Das war die Ettaler Kirche.
Für die vielen Fremdwörter, die lassen wir hier fort, würde er eine Übersetzungs-liste machen.
Drei Abende versaute er sich mit Online-Recherche. Er fand in all dem, was er da las, keine Verbindung zum Gesehenen. Diese riesige Anlage wie für Touristen hingestellt. Ein schickes Hotel. Eine schicke Schule war da auch. Gold, viel Gold, rote Dächer auf den weiszen Häuserblöcken, grüne Kuppeln wie Zipfelmützen, Gärten in den Höfen, nee, Höfe waren das nicht. Also alles mega und die Wolken gaben sich Mühe, ein perfektes Werbeumfeld zu schaffen. Dann latschten auch noch wamperte Mönche über die Kieswege. Und dann erst die Kellnerinnen im Biergarten mit gleichen Dirndls und alle blond, wahrscheinlich geklont. Die Berge als Kulisse konnten auch aus Pappe sein, ausgeschnitten vor langer Zeit.
Echt jetzt. Alles war irgendwie faul, Max wuszte nur noch nicht, wo es begann und ob ausgerechnet er jetzt davon erzählen sollte.
Ohne dasz er seinen Fingern bewuszt einen Befehl dazu gegeben hatte, zeichnete er eine Kirsche, einen Pfirsich, einen Stamm und einen Grabhügel. Dann entstand vor seinen Augen auf dem Blatt Papier vor sich ein Kinderkreis, aufgerissene Münder und Augen, Fäuste ohne Arme.
Das war Geschichte Nummer eins, der Tod von Maximilian Emanuel von Wartenberg.
Auf einem anderen Blatt erschienen langsam erst spitze Zähne, dann dicke Bäuche, dann entblöszte Genitalien. Max streich die Zähne und die Bäuche wieder durch. Er hatte kein Bild für das, was Miszbrauch genannt wurde. Eigentlich war ja schon das Wort daneben. Aber gut: irgendwie wollte er andeuten, dasz die beiden Ereignisse, das, wofür sich am besten eine Kirsche als Superzeichen oder Mem eignete und der Miszbrauchsskandal im Internat Ettal untergründig also auf unbeschriebene Art zusammenhingen. Ein Zitterstrich entstand.
Und ein Zeitstrahl, auf sowas stand Frau Schwarzkümmel, von 1711 bis 2025. Die Linie stürzte sich aber schon vorher in die Tiefe.
Den Satz hatte er vorher schon geschrieben: „Zur gleichen Zeit in der Ritterakademie.“ (Schön war der.) Eine Ritterakademie war eine höhere Schule für höhere männliche Kinder, Adlige Jungs ab 10. Die kamen ab 1711 ins Kloster Ettal, um hier, er las: „in Wildnis und Einöde“, fern von städtischen Verlockungen, „standesgemäsz“ unterrichtet zu werden in Geographie, Geschichte, alten und neuen Sprachen, Mathematik – und jetzt kommt’s: Reiten, Tanzen, Fechten, Heraldik und Schanzenbau und Schieszübungen.
Gab es nicht auch dieses Wort „Pflanzschule“? Ackerfurchen lang und schmal, wie schnell da Gräben und Grabreihen draus wurden. Dieser Namensvetter von ihm, Maximilian Emanuel, geboren 1718, war der letzte „Sprosz“ derer von Wartenbergs. Bisken Grün muszte da ins Bild. Stammbaum, ulkig, die sahen sich wohl als Obst. Dann die Axt, um im Bilde zu bleiben: ein Unfall oder ein Unglück oder Mord durch Mobbing? Folgender Tathergang war denkbar: Die Jungmänner hatten gewettet, wer am meisten Kirschen mit dem Mund auffangen und anschlieszend die Kerne am weitesten spucken kann. Nicht Teil des Unterrichts. Und Maximilian war am schlechtesten im Reiten und Fechten, ward Mehlsack genannt, beim Tanzen lachten sie auch über ihn. Dieses dachte Max sich aus.
Klar wollte er mitthalten mit den coolen Jungs, ihr Gelächter liesz ihn noch höher springen. Und rot wurde er und prustete und blau wurde er und röchelte und stürzte und zuckte. Gesichert war: der letzte Sprosz der Wartenbergs erstickte an einem Kirschkern. Somit erlosch die Linie im Mannesstamm. Das gab ein schönes Wappen, der coolste von allen, ein Ludwig von Wittelsbach, malte eins, das kursierte unter der Bank von Hand zu Hand der „Vons“.
In irgendeinem Text war’s eine Aprikose im falschen Hals des echten Grafen.
Und eine andere Version, schärfer und männlicher, schrieb 1860 Wilhelm Schreiber, angeblich nach Quellen und Urkunden. Ein Schusz mit einem Kirschkern ging ins gräfliche Auge und löschte das Lebenslicht aus. Bald darauf brannte die Ritterakademie übrigens ab. Und das Benediktinergymnasium Ettal mit Internat, das 2025 schlieszt, war die Nachfolgeeinrichtung. Die gezahlten Entschädigungssummen, die an die einstigen Zöglinge, (schon wieder dieser Blick in den Garten) erschienen hoch. Aber geteilt durch wieviele? Was konnten sie kaufen? Max‘ Erfahrung im globalen Kapitalismus: Es war nicht immer alles vorrätig. Doch imgrunde gab es alles zu kaufen. Alle Dinge, Tiere, Landstriche, Inseln, Sportvereine, Firmen. Menschen, bzw. ihre Körper. Namen auch. Den Verlauf hatte er gerade gelöscht, freute sich aber am Ergebnis, das ihm ein Algorithmus gerade präsentierte: bei einem der weltgröszten Online-Marktplätze gab es Adelstitel zu kaufen. Man bekam für die Kaufsumme kein Fahrrad. Ganz obenan: Titel eines Grafen oder einer Gräfin von Wartenberg.

Max grinste von einem Ohr zum anderen. Der Obstkern war irgendwas zwischen Flaschenpost und Blindgänger-Bombe, dreihundert Jahre später trieb der bizarre Blüten. Das stand da aber alles nicht. Deshalb würde er es auch nicht schreiben.

 

ENDE

 

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