Eine Bildungsnovelle
Wo waren wir stehen geblieben?
In weiszer Bluse und mit langem schwarzem Rock vor festgeschraubten Bankreihen. Emmy, Deine Zöpfe sind wieder liederlich geflochten, Du wirst nochmal in der Gosse enden. Kurt, Du hast Dir schon wieder den Nasenausflusz mit dem Ärmel abgewischt, ich seh’s am Glanz. Alle Kinder zeigen jetzt ihre sauberen, gebügelten Taschentücher vor! An welchem Tag feiern wir den Geburtstag unseres geliebten Kaisers?
Kurze Zeit zuvor war Fräulein ein Titel, nicht unähnlich der Herrin oder Gebieterin. Fräulein ist die unverheiratete Dame von Stand. Ganz unvollständig, da nur die sieben preuszischen Fräuleinstifte aufzählend, das Kompendium von Leopold Freiherr von Zedlitz aus dem Jahr 1828: das Fräuleinstift zum Heiligen Grabe in der Ostprignitz, das Fräuleinstift zu Kamin, das Fräuleinstift zu Marienfliesz, das Fräuleinstift zu Rietschütz, das Fräuleinstift zu Grosz-Tschirna, das Fräuleinstift zu Halle an der Saale, das Fräuleinstift zu Barschau. Die Fräulein-Geschichte blieb hier nicht stehen. Den Griffel musz ich spitzen, sonst wird er mir nichts nützen.
Auguste, wo liegen Deine Hände? Fräulein Persius, wenn ich sitze, befinden sich meine Hände gefaltet auf der Tischplatte. Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf, deutsche Schrift, aufstehen, hinsetzen, grade sitzen wie ein Ladestock, nach dem Aufstehen neben die Bank treten, die Hände an Hosennaht oder Richtung Rocksaum zeigend, in Zweierreihen den Klassenraum verlassend. Das Phänomen der Doppelung und das Wunder der Synchronizität gefällt den Kindern im Schulmuseum in der Seilerstrasze. Sie werfen sich in das Mitmach-Schauspiel wie in eine Kuhle, irgendwo drauszen, es kann für sie nur mehr eine Vorstellung sein, mit Rücken und Gesäsz machen sie ihr Erdbett passend. Von sehr weit oben gesehen ergäbe sich ein weiteres Wunder der Gleichzeitigkeit: gegenüber dem Schulmuseum im kaiserzeitlichen Knaben-Oberrealschulbau werden in einer kaiserzeitlichen Volksschule, die selbst doppelt daher kommt, nämlich als Knaben- und als Mädchenschule, Musicals einstudiert, alle Arme, Beine, Köpfe rechts, links, hoch, es musz einheitlich aussehen, Ballettmeister hatten früher einen Stock zur Hand.
Wir stehen in drei Zeit-Schichten, dreierlei Fräulein-Schichten, wie das Pünktchen auf dem i schwebt das Fräulein-Wort darüber. Da ist das heutige Fräulein, das sich nur mehr ironisch so titulieren kann und im Schulmuseum in die Rolle des Fräulein Lehrerin schlüpfen möchte, das Kostüm musz sie sich selbst verschaffen, das Honorar erinnert sie an die Ziel-Zeit, für die freischaffende Historikerin scheint es mehr Zumutung zu sein als für die freie Schauspielerin. Da ist die Witzfigur des Fräuleins, hager, das Kleid hängt an ihr herab wie an einem Bügel, Nickelbrille und Dutt, Schrumpfkopf. Dies die zweite Zeit, eine Klammer-Zeit, besser: die Permanenz des Clichés.
Die dritte ist die, in der die Anrede und Selbstbezeichnung keineswegs uniform ist. Das Fräulein ist eine bürgerliche Frauensperson, in der proletarischen Frauenbewegung findet sich die Spezies nur sehr vereinzelt. Vielleicht scherzte frau: Was soll denn eine Fräulein-Bewegung?
Zweitens: ein Schreckbild
Ist Fräulein Persius denn eine Witzblatt-Figur? Sie ist es wohl kaum für die Volksschüler in ihren Bänken, Augen geradeaus, dem Fräulein entgeht nichts.
Die höhere Tochter am Klavier, klimpernd, ein Witzbild. Der höhere Sohn ist höherer Unsinn. Sein Anschlag ist hart und klar.
Im Jahre 1907 sind 40 Prozent aller Lehrer an Hamburger Volksschulen Lehrerinnen. Die Lehrer-Gewerkschaft, die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens, 1805 gegründet, nimmt Lehrerinnen erst 1912 auf. Der Name der Organisation ist die Basis immerwährender Witzigkeit, Witz verstanden als feindseliges Tabu-Lust-Spiel und zeigt, paradox, in Richtung der Strategie der bürgerlichen Frauenbewegung, weiblichem Leben und Arbeiten einen Platz zu sichern. Mütterlichkeit im Vaterland, was soll komisch sein daran?
Fräulein Persius, ein imaginiertes Fräulein, sie hat das Lehrerinnenseminar in der Angerstrasze in Hamburg Hohenfelde besucht, hat hier humorlos zu sein, undenkbar, dasz sie unverheiratete Männer Herrleins nennt, Fräulein Persius kann auch der realen Kollegin, Fräulein Maria Lischnewska, Volksschullehrerin in Berlin nicht zustimmen.
Fräulein Lischnewska (1854 – 1938) gründete den Landesverband Preuszischer Volkschullehrerinnen und kämpfte in Wort und Schrift für das Wahlrecht der Frau und für das Recht auf Bildung, das wird heute als „radikal“ etikettiert. Auf einem Internationalen Frauenkongresz klagt sie über die erzwungene Ehelosigkeit der Lehrerin, die zu „seelischer Verkümmerung“ führe. Es komme vor, „daß uns so oft unter den Lehrerinnen das traurige Bild der vereinsamten, älteren Frau entgegentritt, das sich selbst körperlich kennzeichnet in jener Hagerkeit und in schwerer Nervosität.“[1]
Fräulein Persius erfuhr von ihrer katholischen Kollegin Bernadette Huber von der Rede, die einige Aufruhr verursacht hatte. Was denkst denn Du: Sollen wir Lehrerinnen denn heiraten? Also gleichzeitig Lehrerin und Ehefrau sein? Ich habe eine sehr gute Erziehung genossen bei den Englischen Fräuleins. Das gibt es bei Euch nicht – Nonnen in Tracht. Sehr gebildete Damen. Die Persius und die Huber plaudern über ihren Bildungskarrieren und Bildungsaspirationen. Kinder, ja, unbedingt, aber doch nicht nur zu zweien oder dreien, die man die eigenen nennt. Die bald gehen werden. Die so oft undankbar sind.
Ich wüszte nicht, welchem Manne ich jemals das Ja-Wort hätte geben sollen. Auf die Frage, ob es Anfragen gegeben habe, schweigt Fräulein Persius beharrlich. Sie möchte auch nicht, dasz wir wissen, ob sie füllig oder hager ist. Beide sind nicht im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein organisiert, es kostet Beiträge und Zeit, aber sie nehmen die Debatten zur Kenntnis, lesen ab und an die Zeitung, die der Verein seit 1890 heraus gibt: „Die Lehrerin“.
Der Lehrerinnen-Beruf ist Berufung
Die Rotzgören wischten über ihre Schiefertafeln. Voll behindert irgendwie, das auf Anweisung zu tun. Emma, die per Zufall ein Namensschild mit Emma umgehängt bekam, fand’s cool, das einfach-so-abwarten.
Ihr redet nur, wenn Ihr gefragt werdet. Das das Fräulein Lehrerin spielende Fräulein dehnt und genieszt die Ruhe.
Für eine Dreiviertelstunde reisen überbehütete Grundschul-Kinder aus einem Elbvorort in raue Kaiserzeitwirklichkeit. Die gute ist die Rechte, die Linke ist die Schlechte. Mit ganzen deutschen Sätzen sollst Du mein Herz ergötzen. Das Fräulein Lehrerin steht neben dem Katheder und hält einen Stock, mit dem es den Takt beim Singen schlägt. Das Fräulein weisz alles, was es zu wissen gibt und sie wird alles an ihre 40 oder 50 Kinder weitergeben.
Der Lehrerinnen-Beruf ist Berufung, ist eine Leiter, die vom Auszen ins Innen der Gesellschaft führt. Das Auszen ist kurioserweise das Innere von Familie, Reproduktion und Stupidität. Sich selbst unterrichten heiszt andere unterrichten und vice versa. Den Ausspruch Friedrich Schleiermachers „Laß Dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre“ wird ein Geschenk einer Frau an eine andere, der Satz wird groszer und schöner mit jedem Mal, er wird befolgt, geliebt und gestickt.
Nach dem Krieg nennen die Pädagoginnen, teilweise konnten sie inzwischen studieren, ihr Tun vermehrt „Kulturaufgabe“. Sie wollen sich hineinschreiben, sprechen, leisten in die Vereine der Männer, Väter, Brüder. Unterrichten statt Unterordnen. Klar wie ein Bergbach die Richtung des Transfers: von oben herab nach unten flieszen Wissensgüter und strömt weibliche Güte.
Das Neue für die neuen Frauen musz an bestimmte nur ihr bestimmte Bedingungen geknüpft sein. Ihr Entree-Billett wird die GEISTIGE MÜTTERLICHKEIT sein. Kein Billett; eine Emanzipations-Zauberformel, eine allgemeine Rettungs-Empfehlung, die Relativitätstheorie der Bewegung. An die nicht alle glaubten.
Kinder Unterrichten also. Alle anderen Tätigkeiten in Verwaltung, Recht, Medizin, von Handlangerdiensten abgesehen, reservieren sich die Männer gesetzlich – teilweise bis in die 1920er Jahre. 1921 entscheidet das Reichsgericht in Leipzig, dasz die Zölibatsklausel für Lehrerinnen nach Artikel 128, Abs. 2 der Weimarer Republik verfassungswidrig sei. In Hamburg hebt der Arbeiter- und Soldatenrat das Lehrerinnen-Zölibat am 7. Januar 1919 auf. Der gleiche Arbeiter- und Soldatenrat beschlieszt, dasz Frauen ihre Arbeitsstellen zugunsten der demobilisierten Männer zu räumen haben.
Vierzig Jahre war das Lehrerinnenzölibat Gesetz. 1923 wurde es faktisch wieder eingeführt – wenn der Ehemann eine Anstellung hat, habe die Ehefrau auf eine solche zu verzichten. 1930 stimmen alle Reichstagsparteien mit Ausnahme der KPD dafür, dasz die sog. „Doppelverdienerinnen“ ihrer Staats-Anstellung verlustig gehen.
Erst über zwanzig Jahre später, 1953, wurde in der Bundesrepublik das Lehrerinnenzölibat abgeschafft. Der Titel Fräulein bleibt der unverheirateten Frau aber treu. Dem Begriff „Lehrerinnenzölibat“ wohnt noch immer eine provokative Kraft inne, die Existenz wird gern bestritten und die überwiegende Ehelosigkeit der Frauen pragmatisch begründet. So glaubt ein Kollege der schauspielernden Fräulein Lehrerin im Hamburger Schulmuseum nicht an die Existenz eines solchen.
Staatsrechtler argumentierten in den 1950er Jahren, dasz es sich nicht um ein Zölibat handle, sondern um die unterschiedliche Behandlung von unterschiedlichen Systemen – also Männern und Frauen – und um die Unvereinbarkeit von zwei Tätigkeiten. Hausfrau und Mutter sei schlieszlich ein voller Beruf. Eine Beamtin könne sich also bei der Entlassung nach ihrer Eheschlieszung nicht diskriminiert fühlen. Ebensowenig wie Beamten-Männer, die noch eine anderen, erfüllenden Beruf ausüben. Wir fühlen uns gut unterrichtet.
Bis 1916 sind die Mitfrauen des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins überzeugt, dasz Ehe und Lehrerin-Sein nicht auf einem Blatt Papier stehen kann. Fräulein de Fauquemont legt ihren Posten im Vereins-Vorstand nieder, als sie 1906 den Bund der Ehe eingeht. Eine Resolution des Vereins Hamburger Volksschullehrerinnen stellt das 1904 klar: „Die Verallgemeinerung der Forderung: verheiratete Lehrerinnen in der Schule, ist, weil gleichbedeutend mit Vereinigung von Mutterschaft und Lehrerberuf, weder den Interessen der Lehrerinnen, noch denen der Schule dienlich.“[2]
Fräulein Persius notiert in ihr Tagebuch
Fräulein Persius notiert in ihr Tagebuch: „Kann man zwei Herren dienen? Ich glaube nicht. Wie herrlich war das gestern mit Bernadette, ich glaube, dasz ich endlich eine vertraute Freundin gefunden habe. Jedenfalls haben wir tüchtig gelacht, uns die Tränchen weggewischt und dann wirklich und wahrhaftig gleichzeitig ausgerufen: wie lange hab ich mich nicht mehr soo amüsiert! Ich hatte sie zu mir eingeladen, zum allerersten Mal überhaupt. Tatsächlich sagen wir jetzt Du zueinander. Wie unvertraut vertraut. Frau Herrmann hatte aber gleich einen Narren an ihr gefunden, praktisch. Sie quiekte „Nein, was haben Sie für wunderschönes Haar, ist das Natur-Blond oder nachgeholfen? Und bei Ihnen sieht der Zopf direkt vornehm aus!“ Schon unberechenbar, die immer so fein tuende Dame. Ich hatte von Zuhause, also von Bruder August eine Mettwurst bekommen und dazu gab’s dann Bratkartoffeln und etwas von dem Aufgesetzten von Tante Frieda. Ein Festmahl! Und den Rauch über der Pfanne, mein kleiner Kanonenofen ist ein ächter Kobold, haben wir mit Schulfibeln weggewedelt bis wir prusten muszten vor lachen. Aber keineswegs blieb es bei dieser albernen Stimmung. Um das ernste Thema der Eheschlieszung und um unseren wunderbaren Beruf ging es. Wir nahmen den Faden wieder auf, diskutierten auch, was diese Spandauer Lehrerin auf dem Kongresz in Berlin gesagt hat. Von „Staatscölibatären“[3] hat Fräulein Maria Lischnewska gesprochen. Wie das klingt! Bestimmt muszten da auch einige der Lorgnon- und Zwicker-Fräuleins kichern. Wir beide gestanden uns ein, dasz wir das immer so hingenommen hatten. Zum Spasz hielt ich dann eine flammende Rede für den Staat und dasz sich in ihm nichts weniger als der Weltgeist offenbare und es sich daher von selbst verstünde, diesem Vernunftgespenst – ich weisz selbst nicht mehr, wie ich auf diesen tollen Ausdruck verfiel – na, dem müssen doch Geschenke gebracht werden.
Der Ofen ging derweil aus, und weil ich nicht in Frau Wirtins Küche gehen wollte, um Feuerung zu holen, krochen wir unter die Steppdecke in mein Bett, hockten uns vis-a-vis gegenüber und vertilgten die ganze Flasche Beerenwein. Bernadette, rosige Wangen und ganz leuchtende graugrüne Augen, vertrat die Position, dasz eine ferne Zukunft nicht blosz Beamtengesetz-Paragraphen hinwegfegen würde. Dasz wir uns das augenblicklich nicht würden vorstellen können, spräche doch keineswegs dagegen. Uns würde das nicht mehr selbst betreffen. So wie wir jetzt, als wir unsere Elternhäuser verlieszen, um Kochlöffel und Nähnadel mit Buch und Feder zu ersetzen, würden nachkommende Generationen von Mädchen niemanden mehr um Erlaubnis fragen müssen. Sie würden heiraten und grosze Schiffe lenken. Wir lachten herzhaft. Und wie oder ob wir letztlich zu einem Entschlusz kamen, apropos Ehe und Beruf weisz ich nicht mehr. Für den Sonntag verabredeten wir uns für einen Elb-Spaziergang bei Neumühlen.“
Ehelosigkeit und Himmelreich
Das Neue für die Frauen wird an neue, nur ihr eigene Gesetze, sprich die Ehelosigkeit geknüpft. Das ist nicht ganz korrekt. Die vorgeschriebene und dann selbst gewählte Ehelosigkeit ist sehr alt und galt ursprünglich für Männer – caelibatos heiszt ehelos auf lateinisch. Der Himmel heiszt caelus und ist damit nah. Männer sollten als Nachfolger Christi ehelos bleiben. Eine besondere Gabe Gottes sei der Zölibat, er mache die Männer freier für den Dienst an Gott und den Menschen. Die Sublimierung der erotischen Energien mache sich positiv auf die Energie der geistlichen Männer bemerkbar. Zweifler zweifeln an der theologischen Begründung und den positiven Folgen. Sublimierung ist augenblicklich so angesagt wie Schiefertafeln zum Schreiben. Auf der können wir aber festhalten, Sublimatio: rauf, runter, rauf: Männer macht sie geistlich, Frauen unleidlich und verzippt. Doch wenn wir weiter nach der Produktivkraft Sublimation, weiblich, suchen, finden wir sie in der gut unterrichteten Enzyklopädie der Frau, zwei dicke Bände, die ihr Erscheinungsdatum verschweigen, wie eine Diva ihr wahres Geburtsdatum, vermutlich erblickten die Lexikonbände um 1960 das Licht der Welt, in dieser Enzyklopädie lernen wir unter dem Lemma ERZIEHERIN: „Die erzieherischen Berufe üben eine grosse Anziehungskraft auf die weibl. Jugend aus. Für viele unverheiratete Frauen bilden sie geradezu einen Ersatz für die eigene Familie. Man spricht von der Sublimierung des mütterlichen Instinktes: Die Triebkräfte, die von der Natur für den Gattungszweck bestimmt waren, werden auf eine geistige Ebene geleitet, die Liebe, die dem eigenen Kinde hätte gelten sollen, wird wirksam für einen weiteren Kreis.“[4]
Fräulein Helene Persius und Fräulein Bernadette Huber bemerkten beim Spaziergang am Elbstrom rasch, dasz sie das gleiche Tempo hatten. Die Möwen zankten über ihnen, das Hämmern von den Werften glich einem zarten Picken, jeder Schiffshornstosz hatte etwas von einem letzten Ausatmen.
Und hast Du eigentlich ein Lieblingsschiff? Aber ich bin doch aus Baiern, meine liebe Helene. Liebe Bernadette, das muszt Du lernen, nimmt Dich ja sonst kein Hamburger Buttsche ernst. Ich bring Dir Vogelnamen bei, Du mir Bootsnamen. Ewer, Jolle, Barkasse – und schau mal, das da ist eine Hafenfähre. Da fällt mir ein, was mir die Mutter von dem kleinen Richard erzählt hat. Ja, der mit den Säbelbeinchen, dessen kl. Schwester, Du weiszt schon. Also Du hast doch sicher schon mal gesehen, was bei Schichtbeginn im Hafen los ist, alle Fähren voll wie unsere Klassenzimmer und ein tolles Gewühl und wenn die Fähre nicht pünktlich bei der Werft oder beim Schuppen ankommt, dann werden die zu spät kommenden Arbeiter nicht mehr angenommen. Ungeheuerlich.
Wenn es Mai wird, wird dort in den Wiesen alles sanft rosa eingefärbt sein, das ist das Wiesenschaumkraut, ich habe dort schon botanisiert. Ach, ja, der Mai. Ist das da ein Reiher? Ja, und er hockt auf einem Duckdalben. Weisz ich doch.
Vielleicht können wir schon bald die Schuhe ausziehen und ein wenig Barfusz gehen, ja, wo weniger Gedränge ist, aber hier kennt uns doch niemand. Du, nächsten Sonntag schauen wir uns den groszen ausgestopften Gorilla im Naturhistorischen Museum an. Da könnten wir auch mal einen Klassenausflug hin unternehmen, die Kinder zeichnen dann ein Tier, das sie nie vorher gesehen haben. Und kennst Du die Bücherhalle in den Kohlhöfen, ein Paradies für Wissensdurstige, die Bücher stehen dort ganz offen herum für jedermann.
Die Gesellschaft bedarf der „Geistigen Mütterlichkeit“ der Frauen
Die Lehrerinnen der 20er Jahre haben ein positives Frauen-Bild, ein wirkliches Ideal. Mathilde Mayer schreibt über staatsbürgerliche Erziehung in der beruflichen Schulen, sich auf Helene Lange, die bekannteste Frauenrechtlerin der sogenannten „Gemäszigten“ beziehend: „Für Helene Lange liegt die Fähigkeit der Frau im Gegensatz zu der des Mannes, der mehr auf das rein Organisatorische im Staatsleben gerichtet ist, darin, „geistige Mütterlichkeit“ dem Staatsbau einzufügen …“ (Ausgabe vom 21. Juli 1923).
Über Mathilde Mayer weisz ich nur, dasz sie Gewerbeschullehrerin war und Artikel für „Die Lehrerin“ schrieb.
Der Kampf für das Bildungsrecht der Frau hatte die Gesundheit von Fräulein Lange angegriffen. Portrait-Aufnahmen von 1919 und 1925 zeigen eine würdige 70 bzw. 75Jährige. Augen unter buschigen Brauen, da wurde nix gezupft, Augen, die nicht in die gleiche Richtung blicken, ein Gesicht, das nicht lächeln musz, ein Dutt über einem Mittelscheitel, es wirkt dennoch nicht allzu streng, die Lippen sind schmal und leicht geöffnet, zum Sprechen, es ist oft ein pathetisches Sprechen. Am 24. März 1919 spricht sie als erste Frau, die eine Funktion bekleidet, im Hamburger Rathaus. Sie eröffnet als Alterspräsidentin die erste Sitzung des ersten freigewählten Hamburger Parlamentes. Jeder zehnte Abgeordnete ist weiblich. Denken sie an das Geburtsjahr der Parlamentarierin Lange, empfinden sie es als ebenso charismatisch wie die Person? Achtzehnhundertachtundvierzig. Fräulein Lange spricht vom „Neubau des Staates und der zu schaffenden Verfassung als Grundlage unseres Staatslebens, von der die überzeugende und überwindende Kraft politischer Gerechtigkeit und sozialen Geistes ausgeht“. „Keinen anderen Weg gäbe es, als den der unbedingten Gerechtigkeit, der demokratischen Gleichberechtigung.“
„Wir Frauen bringen diesen Optimismus mit. Sonst wären wir nicht hier. Wer ein Leben lang für Ziele gekämpft hat, die bis zu allerletzt in unerreichbarer Zukunft zu liegen schienen, der bringt aus diesen Kämpfen viel Zuversicht mit zu dem, was man noch nicht sieht“. [5] Zum Schlusz der Sitzung, es ist 11 Uhr abends, bekommen alle 17 Frauen vom Abgeordneten Johannes Hirsch von der Wirtschaftspartei noch etwas mit auf den Heimweg, wir vermissen die Logik und erkennen die Drohe-Botschaft. Hirsch wünscht um 10 Uhr zu schlieszen, und begründet: „Wir haben jetzt auch Damen unter uns, und es ist eine Zumutung, daß sie den Weg zu Fuß zu ihrer weit entfernten Wohnung aufsuchen sollen. Entweder früherer Beginn der Sitzungen oder früherer Schluß!“[6] Empfand das eine Frau als ritterlich?
Helene Lange hatte als junges Mädchen darum gekämpft, das Lehrerinnen-Examen zu machen. Sie konnte es erst mit 23 Jahren in Berlin.
Ihr Erweckungserlebnis fand in einem schwäbischen Pfarrhause, in Ehningen, statt. Es war keine Bekehrung zum Herrn Jesus oder zum Pietismus, sondern sie war beeindruckt vom klugen Daherreden der Männer und vom Schweigen der Frauen. Mit 16 empfand das Mädchen die getrennten Welten der Geschlechter als absurd, ja grausam. „Aufsehen und Befremden“ hätte eine Einmischung in die Männer-Diskurse bedeutet. Die Siebzigjährige erinnert sich an einen Ausflug von Ehningen in die Universitätsstadt Tübingen:
„Daß es sich in der Tat um die Bewohner zweier Welten handelte, war mir schon ziemlich früh klar geworden. Als wir zum ersten Mal mit dem Onkel nach Tübingen gingen, holte uns der Sohn des Hauses am Bahnhof ab. Er ging mit dem Vater voraus, dicht vor uns Mädchen her. Das Gespräch drehte sich um die Vorlesungen, die er hörte: Ethik, Dogmatik, Philosophie – Er gab Einzelheiten, skizzierte kurz seinen Plan für das Semester – So etwas gab es also! Das konnte so ein glückseliger junger Mann alles hören; es wurde ihm noch zur Tugend angerechnet, wenn er es nicht schwänzte! Und davon waren wir als Mädchen ganz selbstverständlich ausgeschlossen, auch wenn innere und äußere Not uns drängten! Ich wußte, ich würde meinen Weg durchs Leben zu machen haben, aber ich würde auf Surrogate angewiesen sein. An den Quellen zu schöpfen, die auch dem Dümmsten, nur durch Einpauken durch die Reifeprüfung geschobenen Manne offen standen, war mir verwehrt. Vielleicht war diese Stunde die Geburtsstunde der ‚Frauenrechtlerin’.“[7]Mädchenbildung auf dem Tiefpunkt
Die Mädchenbildung war auf dem Tiefpunkt, die der Knaben schwang sich dank Humboldtscher Ideale und Ordnungen zu Höhen auf – das geregelte Abitur regelte den Hochschulzugang. Die Mädchenbildung war privat, ihre Inhalte dämlich. Privat soll sie auch nach dem Willen der Mädchenbildungs-vorkämpferinnen bleiben – und zu einer ganz anderen werden. Der Obrigkeits-staat kann beides nicht wollen. Und den Fräuleins fällt die höhere Mütterlichkeit ein; drei Trümpfe im aber unfairen Spiel: Frauen müssen mitspielen dürfen im Bildungsspiel, der Anspruch gilt Klassen-unabhängig für alle Frauen. Drittens ist Weiblichkeit keine Devianz und keine Deduktion, sondern Standpunkt, von der aus das Tatsächliche und das Männliche kritisierbar ist. Fräulein Helene Lange wie auch ihre jüngere Lebensgefährtin Gertrud Bäumer zitieren die frühromantischen zehn Gebote Schleiermachers[8] aus der „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen“. Eine Persiflage auf etwas, das fast jedes evangelische Kind auswendig lernen muszte. Das 10. Gebot schlosz den Bildungshimmel auf mit „Lasz Dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre.“ Und das 9., das ist doch aber eher sowas Literarisches, Abgeschlossenes, nein, das sehe ich ganz anders, meine Dame, liebes Fräulein schauen Sie doch nur, wir sollten das nicht in den Mittelpunkt stellen, aber meine Damen, ich bitte um Ruhe, das Wort hat, Oh doch, genau das ist unsere edle Aufgabe, unsere Kulturmission, ich kann damit nichts anfangen, dieses Gebot war niemals aktueller, nein, wir müssen unsere eigenen Gebote entwickeln, müssen wir das Rad neu erfinden, darf ich das 9. Gebot von dem alten Schleiermacher nochmal hören: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer, du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken.“
Fräulein Persius und Fräulein Huber setzten Ausflüge und Debatten fort. Sie konnten Schiffe, Tiere und Blüten begucken, sie konnten sich vorlesen. Das bettelarme und immer zufriedene Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal wurde fortan unsichtbarer und stets ansprechbarer Begleiter Helenens und Babettes. Meine Lieblingsstellen und deine, „da steigt die Liebe wie aufblühendes Gesträuch an den Fenstern jener Marterkammern empor und zeigt in schwankenden Schatten den großen Frühling von außen.“ „Wir aber hocken in Alumeen und Schreibstuben“. „… aber warum macht doch mir und vielleicht euch dieses schulmeisterlich vergnügte Herz so viel Freude? – Ach, liegt es vielleicht daran, daß wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und unsern Atem drückt und weil wir die schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstücken schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein sein Leben verhüpft?“ Der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre zu touchieren und der Zufriedenheit doch nicht teilhaftig werden zu können, wo lag da Lust oder Sinn. Die Exkursionen boten Gelegenheit, Kolleginnen aus anderen Lehranstalten kennen zu lernen.
In Hamburg 40 private Mädchenschulen – erst 1910 geht’s zum Abitur
Um 1890 gibt es etwa 40 private Mädchenschulen in Hamburg. Eine Hamburgensie ist das. Neun Jahre, ohne Abschlusz. Die Hamburger Familien, die sich für wichtig und gut beleumundet halten, schicken ihre Töchter seit dem Jahr der Reichsgründung zur Klosterschule, so wie sie diese ins einstige Kloster verschoben hatten. Wo die meisten sehr glücklich und lange lebten fern der Fortpflanzungsfron. Das Grundkapital stammte noch von daher.
Erst 1910 führen Klassen hier zum Abitur. Erst als die Inflation 1923 das Vermögen vernichtete, wurde die Mädchen-Schule eine staatliches Institut. Schon bevor die Mädchen sich das Zeugnis der Reife erarbeiten dürfen, können sie das angeschlossene Lehrerinnenseminar besuchen, Adresse Holzdamm. Segnungen der Privatheit. Und das dann in Alsternähe. Und dann doch kein Idyll. Denn es gibt zu viele Männer. Es gibt zu viele Lehrer. Die finden: es sind nicht genug. Die Lehrer wollen Stellen und sie wollen sie für sich haben. Männer muszten im Kaiserreich lange auf eine Anstellung warten. Nur deshalb drängt es sie in die Mädchenbildung. In dieser Konkurrenz-Situation ist es den Lehrerinnen wichtig, ihre einzigartigen weiblichen pädagogischen Fähigkeiten zu erfinden und zu betonen. 1908 setzten die Männer eine Männer-Quote durch: mindestens ein Drittel in jedem Kollegium jeder höheren Mädchenschule müssen Männer sein.
Die 8. Klasse der Klosterschule unterrichtet im Schuljahr 1876 Fräulein von Holtzendorff. Märkischer Adel. Siebenunddreiszig Mädchen blicken uns ernst an. Das Viereck der offenbar auf einem Treppenpodest in vier Reihen gesetzten Mädchen wird unten von einer Reihe Stiefelletten gesäumt. Bestimmt schwarz. Weisze Strümpfe darüber. Ist es immer so, dasz Kinder einer Klasse nicht gleichaltrig aussehen? Acht oder neun müszten diese sein. Und warum haben so viele Kinder, Frauen, Männer (hier nicht im Bild) auf alten Lichtbildern so alte Augen? Das Mädchen unten links etwa, das ein schwarzes Schleifchen auf dem gerüschten weiszen Überkleid trägt. Ihre Nachbarin mit den unbedeckten Armen und dem Kreuz an der Halskette eigentlich auch. Die Photo-Rückseite nennt in ordentlichen und verzitterten Buchstaben die Namen der Kinder. Sind sie aus der Erinnerung geschrieben und die Zeit hat der Schreibhand zugesetzt?
Zwei Namen fehlen, zwei sind unterstrichen: Martha Seitz, als einzige legt sie die Hand auf die Schulter einer Klassenkameradin. Es ist das Mädchen mit dem Schleifchen, von ihr haben wir nicht den Namen. Ebenfalls unterstrichen ist Helene Schmersahl. Fünf Mädchen heiszen Emma. Fräulein von Holtzendorff erscheint klein und kaum älter als die Mädchen, ihr hochgeschlossenes kariertes Kleid mit Rüschen an Ärmeln und Saum wirkt unbequem und ist damit doch ideales Schulumfeld. Auguste Walsemann hat sich im Moment der Aufnahme bewegt, ihr Gesicht ist verwischt, nie konnte sie stillhalten, still sitzen, nicht irgendwas mit den Händen machen. Ob die Mädchen nach irgendeiner Betragens-Ordnung hingesetzt und gestellt wurden? Die Kopfnoten: Betragen, Fleisz, Aufmerksamkeit standen ganz oben auf dem Zeugnis. Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert sind sie in Sachsen, später auch andernorts, wieder eingeführt worden. Betragen, Fleisz, Mitarbeit und Ordnung. Neu hinzugekommen ist also die „Mitarbeit“, befreit vom Schulfach-Zusammenhang. Fräulein von Holtzendorff, wie beurteilen Sie die Mitarbeit Ihrer Schülerinnen? Fräulein von Holtzendorff, verstehen Sie die Frage nicht?
Wir wissen und sehen es, die Kinder von Fräulein von Holtzendorff kommen aus bürgerlichen Familien. Sie sollen einmal tüchtige Kaufleute, höhere Beamte, Ingenieure, Mediziner heiraten.
Fräulein Persius und Fräulein Huber konnten es nicht glauben – Es gibt bei Ihnen Mädchen, die nicht zur Schule kommen können, weil sie keine Schuhe haben? Der Regenschauer war so heftig und überraschend gekommen, dasz die vier Frauen unter einen Kioskdach Schutz vor den Fluten suchten. Zufällig waren die vier kurz vorher miteinander ins Gespräch gekommen. Gleichzeitig hatten die Persius und die jüngere des Kolleginnenpaares eine kleine Münze in die Schale auf dem Leierkasten gelegt und die Melodie „Ach, Du lieber Augustin“ mitgesungen, ihre Freundinnen hatten eingestimmt. Und dann der Sturzregen. Aber bei uns in der Paulsenschule gibt es seit vielen Jahren einen sogenannten Fuszzeugverein, der hier aushilft. Damit der regelmäszige Schulbesuch der Kinder nicht am mangelnden Schuhwerk leidet. Die Kolleginnen von der Schule Paulsenstift trugen beide kleine Drahtbrillengestelle, die sie jetzt abgesetzt hatten und tatsächlich mit dem Rocksaum putzten. „Unsere Schule musz da manches ausgleichen, was die Eltern nicht zu leisten vermögen.“ Beim kollegialen Austausch von Fräulein Lehrerin zu Fräulein Lehrerin wäre auf jeden Fall die „Suppenanstalt“, die 1868 eingerichtet worden war, zur Sprache gekommen. Und das seit 1896 bestehende „Olgaheim“ in Timmendorf. Eine Stiftung. Die Kinder werden gewogen und ihre Gewichtszunahmen in einem Heft vermerkt. Die Paulsenstiftschule ist die zweitgröszte Hamburger Mädchenschule. 1895 lernen dort 607 Mädchen. Die Direktorin ist 40 Jahre lang Anna Wohlwill, sieben Jahre älter als Helene Lange, Jüdin, sie unterrichtet, seit sie 15 Jahre alt ist. Die Schule hat seit 1866 ein eigenes Haus, An den Pumpen 38, südliche Altstadt, wenig reputierlich, bevor dort abrasiert und schicke Klinker-Kontorhäuser wie das Chilehaus gebaut wurden. An Anna Wohlwill erinnert die Wohlwillstrasze in Hamburg St. Pauli, wo man sich ihrer aber mangels Vornamen nicht erinnert. Ab 1911 ist Hanna Glinzer Direktorin, Jahrgang 1874. Fräulein Glinzer war eine der ersten sog. Oberlehrerinnen – sie hatte nach dem Lehrerinnenexamen an der Klosterschule von 1901 bis 1904 in Berlin studiert.
1936 feiert die Schule 70jähriges Bestehen und es gibt eine Festschrift nebst Festfolgeprogramm und in diesem Jahr wirft Hanna Glinzer den Bettel hin, die Schule ist nun verstaatlicht. Punkt VII der Feier: „Sologesang: Brahms/ Auf dem See. Schubert/ Frühlingsglaube Frl. Ortrun Busse. Am Flügel: Frl. Luise Wölber.“
Die Festrede hält nicht die Glinzer sondern „Direktor Paula Oates“ – eine höhere Position kann offenbar nicht von einem Fräulein ausgefüllt werden.
Hanna Glinzer hatte den Mut, im Vorwort der Festschrift Anna Wohlwill zu zitieren. Sie geht in den Vorruhestand anstatt den Treueeid auf Adolf Hitler zu leisten. Die Wohlwillstrasze in Eimsbüttel wird zeitgleich in Felix-Dahn-Strasze umbenannt. Fräulein Wölber singt, Fräulein Glinzer und die geladenen Gäste lauschen den Versen Ludwig Uhlands: „Nun armes Herz, sei nicht bang!“, „Nun musz sich alles, alles wenden“ und vielleicht hören einige dies nicht „Man weisz nicht, was noch werden mag.“ Bildung macht unglücklich, im Ganzen wie im Einzelnen, macht einsam, krank, schwach. Das darf nicht verschwiegen werden. Bildung ist auch nur ein Gut, eine Ware, hat Frau Ilsebill vom Zauber-Butt ein Diplom verliehen bekommen, will sie auch schon mehr. Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje inne See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will. Ilsebill lernt zwar Physik, hat aber auch vier Stunden Hauswirtschaft in der Woche. Kann nicht mal etwas bleiben, wie es war und für gut und richtig erachtet wurde? In der Festjahrs-Broschüre von 1936 lesen wir das, auch, dasz immer wieder der Vorwurf der „Überbildung“ zurückgewiesen werden musz. Vielleicht ein Beispiel für Bildung unter Verfalls-Vorbehalt: Am 18. Januar 1921 legte eine Abordnung von zwei Mädchen aus jeder Klasse einen Lorbeerkranz am groszen Bismarckdenkmal in Hafennähe ab – die Fräuleins feiern die Proklamation des Kaiserreichs in Versailles.
Wo waren wir stehen geblieben? Bei gebildeten Fräuleins und dem Stillstand der Zeit. Bei Mütterlichkeit ohne Mutterschaft. Bei der Liebe zum Kollektiv. Ist das korrekt, Fräulein Persius? Nur im Schulmuseum ist die Lehrerin noch ein Fräulein, die Bezahlung der Fräulein-Darstellerinnen ist kaiserzeitlich inspiriert, das Lehrerinnen-Kostüm ist mitzubringen.
Die Anrede verblich eine Generation nach dem Erlöschen des Zölibat-Gebots. Mutmaszlich infolge einer Dienstanweisung. Oder einer Verwaltungsanordnung? Einer Sprachanweisungsausführungsbestimmung? Einer Formularreform-verordnung? Eines Anredeempfehlungsrundschreibens?
In einen solchen Verwaltungsakt musz die zweite gesellschaftliche Erneuerung der zweiten Frauenbewegung hineingetropft sein. Geistige Mütterlichkeit ist 1970 so wenig tragbar wie Frauen zu Fräuleins schrumpfen zu lassen. In den Beamtenverhältnis-Ernennungsurkunden des Hamburger Senates ist die Lehrerin in den 1950er Jahren ein Fräulein. Und sie ist „Hilfslehrerin“. Und „Hilfslehrerin“ und Fräulein ist sie auch in den 1960er Jahren. Erst 1969 wird die unverheiratete Lehrerin, nach längst überwundenem „Hilfslehrerinnen-Dasein“ (ein Referendariat wird erst 1967 eingeführt) zur „Frau“.
Wo waren wir stehen geblieben? Im Museum, im Lyzeum, im Zwischenraum der Zeiten, im Moment, in dem die Frau, Dame, Mädchen, Tochter im schwarz-weiszen Kleider-Panzer nach den Früchten der Gelehrsamkeit greift. In dem sie undankbar der Hand des Mannes entkommt, allein stehen will, nach Vorbildern suchend, sich durchschlagend gegen Vorwürfe von Überbildung, Naturgesetzen und patriarchalen Paragraphen und einen Ort findet für weibliche Existenz; Fräulein Persius, Sie sollten das letzte Wort haben. Das Fräulein packt ihre Aktentasche und blickt uns an.
Wiebke Johannsen, Januar/ Februar 2018 – aus der Reihe der „Angewandten Fräuleinforschung“
[1] Aus: Marie Stritt: Der Internationale Frauen-Kongress in Berlin: Bericht mit ausgewählten Referaten, Berlin 1904, S. 271 – 276.
[2] Zit. n. Kirsten Heinsohn, Politik und Geschlecht – Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg, Hamburg 1997, S. 169.
[3] Zit. n. Sabine Reh, Die Lehrerin – Weibliche Beamte und das Zölibat, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, S. 31 – 39, Heft XI/1 2017, S. 31.
[4] Enzyklopädie der Frau – das große Buch über die Frau in zwei Bänden, Hamburg o.J. (Lizenzausgabe des Encyclios-Verlages Zürich) Band 1, S. 964.
[5] Zit. n. Rede von Prof. Dr. Franklin Kopitzsch anläszlich „60 Jahre SPD-Bürgerschaftsfraktion Hamburg 1946 bis 2006“ http://www.spd-fraktion-hamburg.de/uploads/tx_wfpresse/60-jahre-spd-fraktion-hamburg.pdf
[6] Zit. n. Bürgerschaftsprotokolle, 1. Sitzung der Bürgerschaft, Montag, den 24. März 1919, S. 28.
[7] Zit. n. Helene Lange, „Lebenserinnerungen“, 8. Kapitel, erschienen 1925
http://gutenberg.spiegel.de/buch/lebenserinnerungen-7074/8
[8] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen (geschrieben um 1800), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Schriften und Entwürfe, Band 2, Berlin 1984, S. 153 – 154.