Glück

Die sieben Paradoxien des Glücks

Blick auf blauen Himmel mit weißen Wolken, Kondensstreifen und zwei Stromleitungen, die horizontal verlaufen.

Ist Ihnen schon aufgefallen, dasz überall Ratschläge geschlagen werden übers glückliche Leben, übers Glücklichsein, über „Flow“, über das Erlernen des Glücks? Ohne Fragebögen und Statistik ist klar: das hat zugenommen. Meine These dazu: Flankierende Masznahmen zu Angst und Krise, Fröhlichkeits-kampagnen. Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Propaganda gegen das Unheil und die Unordnung der Welt.

Kleine Einrede nach dieser aktuell gemeinten Vorrede:
Den Begriff „stoisch“ kennen wir alle. Und mir kam sehr heutig vor, was der Stoiker Epiktet (griech. Philosoph, geb um 50 unserer Zeitrechnung) über das Glück schrieb.
Ewig gültige Ratgeberliteratur gewissermaszen:
„Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen.“ Und: Verlange nicht, dasz die Dinge gehen, wie Du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und Dein Leben wird ruhig dahin flieszen.“
Noch eins: „ … kommt Anstrengung, so findest Du Ausdauer; kommt Schmach, so findest Du Kraft zum Erdulden des Bösen …“

Das ist das erste Glücksparadox meiner kleinen Glücksüberlegung. Viel Angst, viel Glücksbeschwörung. Wir können Glück und Unglück ganz nah beisammen sehen, sehen, wie sie da nebeneinander sitzen. Deshalb erstmal die grobe Vorsortierung: Glück erstens als kurzfristiges Ereignis – nennen wir sie FORTUNA.
Glück zweitens als individuell definierter Zustand – nennen wir sie FELICITAS.
Glück drittens als philosophische Idee, als Glückseligkeit. Nennen wir sie BEATA.
Die drei Damen können wir auf ein Treppchen stellen.

Wenden wir uns Beata und Felicitas zu. Umsonst, also ohne Einsatz, sind sie nicht auf ihr Treppchen gekommen. Daher folgende Arbeitsdefinition: „Glück ist Tätigkeit der Seele gemäsz der ihr eigenen Tüchtigkeit.“ (Aristoteles, über 300 Jahre später als unser Ratschläger Epiktet.)

Glück – also Beata – im Spannungsfeld von Ansprüchen der Seele, des Körpers, des Geistes. Wieder die Zahl drei.
Spirituelle Erfüllung, sinnliche Lust und materielle Güter, geistige Genüsse.
Sonst noch was? Und irgendwo da auf dem Feld liegt der Glücksball und die Vorstellungen jeder Einzelnen weichen so voneinander ab wie unsere Fingerabdrücke. Anders als bei denen, meinen wir, mit unserem Glücks-Fingerprint Recht zu haben, d.h. unsere gedachte oder gelebte Glücks-Vorstellung halten wir für die einzig richtige. Auf keinen Fall möchten wir glücklich sein wie irgendwer anders. Also auf dessen Art. Obwohl wir andererseits die meisten anderen für glücklicher halten – doch das sind die Niederungen der Empirie.

Festhalten können wir: das Glück ist eine Trennscheibe. Das ist das zweite Glücksparadox. Vorstellungen vom Glück sind untrennbar verbunden mit Vorstellungen vom guten und sinnhaften Leben.

Glücksparadox drei: Fragen wir einmal Felicitas (Glück als individuell definierter Zustand), ob sie noch sie selbst ist, wenn ihr z.B. sinnliches, körperliches Glück andauert. Zehn Jahre im Wellness-Hotel etwa, Felicitas würde Bettlaken aneinander knüpfen und ausbrechen oder Amok laufen. (Zu schweigen von den Wellness-Arbeiterinnen, die Felicitas verwöhnt, verwellt, also beglückt haben. Wie oft überhaupt mein Glück durch das Unglück einer Anderen erzeugt wird – dagegen gibt es Fair-Trade.)

In dem Glücksspiel der drei Bekannten Körper und Geist und Seele kommt der Seele eine Vermittlerinen-Rolle zu. Coach, Mediatorin, Ringrichterin.

Glücksspiel sagte ich. Gibt es nicht seit einigen Jahren die Vorschrift, überall Warnhinweise anzubringen? „Glücksspiel macht abhängig, lassen Sie es nicht so weit kommen …“ Ist das nicht auch paradox: Die Jagd nach dem Glück macht unglücklich, die Sehnsucht ist blosze Sucht, ist Krankheit?
Das ist Glücksparadox vier: Fortuna dreht am Rad. Oder sie flicht uns darauf.

Zeit, die übrigen Teilnehmerinnen vorzustellen. In der Antike ist die Tugend oft die einzige Möglichkeit des Glücks. (Wir brauchen da auch mal fix eine Definition: Tugend als beständige Gerichtetheit des Willens auf das Sittlich-Gute. Tugend selbst ist sittlicher Wert.) Nur die Tugenden können laut Aristoteles glücklich machen, da wir nur über sie ganz verfügen können. Über Reichtum nicht. Über Gesundheit nicht. Ein gewisses Vorhandensein ist aber Bedingung fürs Glück. Aber: Ämter bringen kein Glück, da sie nur durch Schmeichelei erreicht werden. Reichtum bringe keine Glück, da es Furcht vor Verlust erzeugt.
Die Tugend der Weisheit ist für Platon Bedingung des Glücks.

Wie schade, dasz ich nur von alten toten Männern spreche.
Sie haben in diese Glücks-Geschichte die Spaltung hineingeschrieben. Oben-Unten, Geist-Körper, Herr-Sklave, Mann-Weib. Das Leben in der reinen Vernunft-Tätigkeit sei das vorzüglichste und angenehmste. Und diese Vernunft und die erwähnte Tugend haben ihren Hauptwohnort im Männlichen. („… anders herrscht der Freie über den Sklaven, das Männliche über das Weibliche und der Erwachsene über das Kind. … Der Sklave besitzt das planende Vermögen überhaupt nicht, das Weibliche besitzt es zwar, aber ohne Entscheidungskraft …“ Aristoteles, Politeia. N.B. Frauen wie Sklaven gehören zum Besitz.)

Das bedeutet nicht, dasz wir die Aufzeichnungen der Alten (Zausel) ignorieren können. Denn GLÜCK ist, was dafür gehalten wurde, wird, gehalten werden wird. Ich bitte um Vergebung, hier nicht von den antiken Philosophinnen zu sprechen  – in allen philosophischen Schulen der Antike waren Frauen vertreten. Nur in einer nicht, der aristotelischen. Irgendwie logisch.
(Zum Thema antike Denkerinnen und das Glück ist mir leider keine Literatur bekannt.)

Die Tugenden, diese Glückswächter alter Manier, werden später übrigens zumeist weiblich dargestellt. (Die Klugheit leuchtet mit der Fackel, die Tapferkeit präsentiert das Schwert, die Frömmigkeit trägt das Kreuz, die Eintracht das Rutenbündel.)

Am Anfang der aufgeschriebenen Glücksüberlegungen gibt es den Widersacher der Tugenden, überhaupt des Guten noch nicht; den WILLEN. Bei jedem schönen System braucht’s eine Stelle, von der aus frau das Denkgebäude aus den Angeln heben kann. Das ist der Wille. Ein autonomer Wille, die Freiheit des Handelns auch zum Vernunft-Widrigen – das muszte erstmal erfunden werden. Garanten des Glücks, wie die Tugend, gibt es nicht mehr. Das Glück ist nicht mehr unbedingt Ziel, sondern eher Begleitgrün des Lebens.

Bewegung in die Reden und Schriften übers Glück kommt mit KANT. In seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788 sortiert der Alte alles fein säuberlich auseinander: Vernunft, Erfahrung, Wille – und Pflicht und Freiheit. Sinnlichkeit und Sittlichkeit sind sich ganz fern und nicht grün, gerade weil der Wille der Vernunft unverwandt ist. Zwei Bestrebungen mit unterschiedlichen Zielen.
Eine Rede vom Recht auf Glück sei nach Kant absurd, da das Streben nach Glück den Menschen ohnehin determiniere. Empirisch, also wirklich, ist der Mensch unfrei, steht unter Natur- und anderen Gesetzen, wozu quasi das „Glücksgesetz“ gehört. Das Glücksstreben macht den Menschen unfrei. Als vernunftbegabtes Tier aber ist er frei, frei von und zu. Und nur von der praktischen Vernunft geleitet. Und dann tritt die Pflicht auf. Und wer denkt da nicht an zerschossene preuszische Uniformen, an Dienstmädchen-Klagen und Kasernenhofton in Kadettenanstalt und Mädchenpen-sionat?
Kants Pflicht meint aber nicht den Verzicht aufs eigene Glück, zielt aber auf allgemeine Wohlfahrt, verbietet die Instrumentalisierung von Menschen – Beispiel Sex: die Harmonie der sinnlichen und sittlichen Bestimmung des Willens bedeute den Verzicht auf rein sexuelle Beziehungen zu Menschen, da dies erniedrige. (Achja: Verzicht auf Sinnlichkeit predigt Kant nicht.)

Ausruhen von diesem Getümmel und diesen Zumutungen an Freiheit können wir prima bei den groszen Pessimisten! Mein Liebling ist Blaise Pascal (1623 – 1662). Mit der Freiheit könne der Mensch nichts anfangen, er will sie loswerden, gibt sich den schalsten Zerstreuungen hin. O-Ton:

„Die Seele findet in sich nichts, was sie befriedigt; sie sieht dort nichts, was sie nicht betrübt. Das zwingt sie, nach auszen zu schweifen und den Versuch zu machen, in der Anhänglichkeit an äuszere Dinge die Erinnerung ihres wahren Zustandes zu verlieren. Ihre Freude besteht in dieser Vergessenheit; und sie elend zu machen, genügt, sie zu verpflichten, sich zu betrachten und mit sich zu sein.“

Pascal war der, der erkannte „dasz das ganze Unglück der Menschen daher kommt, dasz er sich nicht ruhig in seinem Zimmer zu halten weisz.“
Woher rührt die Angst vor der Ruhe und der ruhigen Seelen- und Selbstbetrachtung?
Es ist das „natürliche Unglück unserer schwachen und sterblichen und so elenden Beschaffenheit, dasz nichts uns trösten kann, wenn wir ungehindert daren denken und nichts sehen als uns selbst.“
Pascal hat einen Hebel, sich aus der Misere herauszuschaffen. Es ist die christliche Religion und Gott. Ein klägliches Paradox – das fünfte dieser kleinen Abhandlung: „… man sucht die Ruhe in der Bekämpfung dieser oder jener Hindernisse; und wenn man über sie glücklich hinweg ist, wird die Ruhe unerträglich. So verrinnt das ganze Leben.“
„Da haben die Philosophen gut sprechen: Greift in Euer Inneres, dort findet Ihr das Glück!“ Jede Bagatelle vermag uns zu zerstreuen und „die Zerstreuungen sind unendlich viel weniger vernünftig, als unsere Langeweile. Paradox fünfeinhalb: eben darin liegt ein groszer Trost.

Apropos pessimistischer Trost: Einem ganz gräszlichen Frauenverachter des 19. Jahr-hunderts (Sohn eines Selbstmörders und Sohn – und Bruder – einer Schriftstellerin, nämlich von Johanna Henriette Schopenhauer, geb. 1766 in Danzig, seit 1793 in Hamburg lebend, danach in Weimar KünstlerInnen und gelehrte Frauen und Männer um ihren Theetisch versammelnd) – nämlich Arthur Schopenhauer stimme ich zu:
„Besser auf eine vernünftige Art unglücklich, als auf eine unvernünftige Art glücklich.“

Ganz selten kann ich der Versuchung widerstehen, mich auf die Wortspur zu begeben, also die Etymologie zu befragen. Beim GLÜCK unterstreicht das den Eigensinn des Glücks: Glück kommt von Gelücke – Mitte des 12. Jahrhunderts. Da ist es die Luke, das Passende, das Deckelchen. Der Hut des Glückspilzes. Glückspilz, Glückskäfer, Glückskeks, Glückstee, Glücksklee etc.pp.
Womit wir beim Volkstümlichen angekommen wären. Hörten früher nicht alle Märchen auf mit „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.“?
In meiner Erinnerung ja. In echt nein. Ich habe nachgeschaut. In der falschen Erinnerung steht das Glück am Ende einer Kette von Unglücksfällen und Untaten. Es ist das zu Erwartende, das magisch Abwesende und darum Leuchtende. Das bekannteste Glücksmärchen endet nicht so; Hans im Glück ist nämlich immerzu glücklich, wird glücklicher, je weniger er besitzt: „Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort …“
Was für ein Idiot! Irgendwann träumen wir davon, so zu sein wie er. Irgendwer träumt es im Urlaub, im Retreat, im Sabbatical, in einer Komfortzone jedenfalls.
Das ist das Glücksparadox sechs, das Paradox des Besitzes.

Kinder sollen daran glauben – was sie am wenigsten tun – und für uns Grosze gibt es die Glückswissenschaft, die empirische und vergleichende. Von der lesen wir andächtig-ungläubig auf den „Vermischtes / Aus aller Welt“-Seiten der Zeitung. An der Erasmus-Universität in Rotterdam gibt es eine World-Database of Happiness, die Ergebnisse aus 50 Ländern erhebt und ständig aktualisiert.
Institute für Glücksforschung existieren in München und Wien.
Überspringen wir einmal das offensichtliche Glücks-Meszbarkeits-Paradox: Glück ist doch von der Idee her das Unermeszliche, das Unendliche. Aber die Database-ForscherInnen messen eben genau das. Und auf diesem Glücks-Ranking liegt Deutschland auf Platz 33. Und auf den oberen Plätzen finden wir Venezuela, Nigeria. Und Island. Und auf Platz 10 die Schweiz.
Recht paradox auch, dasz die Deutschen die Glücks-Kicks laut Statistik vor allem – Platz 1 – im Zusammensein mit den eigenen Kindern finden. Die Kinder offenbar aber nicht, taucht auf ihrer Seite das Zusammensein mit den eigenen Eltern doch gar nicht auf.

Dies sind blosz amüsante Fusznoten auf dem Glücks-Wege. Sie helfen uns nicht weiter in der Glücks-Erkenntnis. Oder nur so: wenn Intelligenz das ist, was Intelligenz-Tests messen, ist Glück das, was die World-Databasze vermiszt. Also messen tut.

Siebtes, doppeltes und letztes Glücksparadox:
Glücksparadox der Zeit: Zeit intensiv spüren – und gleichzeitig über aller Zeitlichkeit zu sein, Ewigkeit zu berühren.
Glücksparadox des Ortes: Glück meint, gleichzeitig aus sich herauszutreten und ganz bei sich zu sein.

Ich möchte enden mit der Bilanz einer sehr weisen und gelehrten Dame des 18. Jahrhunderts, mit der Marquise du Châtelet (1706 – 1749), die in ihrer Rede über das Glück das Recht auf Glück ins Zentrum stellt (in gut epikuräischer Tradition) und den Willen sowie die eigene Entscheidung ins Zentrum stellt. Und das Streben nach Wissen. Achja und seufz: den Verzicht. Besser ist das.

„Versuchen wir also, es uns gut gehen zu lassen, keinerlei Vorurteile zu hegen, Leidenschaften zu hegen und sie unserem Glück dienlich zu machen, unsere Leidenschaften durch Neigungen zu ersetzen, mit gröszter Sorgfalf unsere Illusionen zu bewahren, tugendhaft zu sein, niemals zu bereuen, uns von traurigen Vorstellungen fernzuhalten und unserem Herzen nie zu erlauben, auch nur ein Fünkchen Neigung für jemanden zu bewahren, dessen Neigung schwindet und der aufhört, uns zu lieben.
Da man altert, musz man auf die Liebe eines Tages verzichten, und dieser Tag sollte der sein, an dem sie uns nicht mehr glücklich macht.
Denken wir schlieszlich daran, unsere Neigung für die Wissenschaft zu pflegen, diese Neigung, die das Glück vollkommen in unsere eigenen Hände legt.
Nehmen wir uns vor dem Ehrgeiz in acht und vor allem seien wir uns im klaren, was wir sein sollen, entscheiden wir uns für den Weg, den wir für unser Leben einschlagen wollen, und versuchen wir, ihn mit Blumen zu säumen.“

(zitierte Lit.: Annemarie Pieper, Glückssache – die Kunst, gut zu leben, München 2007
Verena Thiele, Katharina Thiel, Klassische Texte zum Glück, Berlin 2007
Madame du Châtelet, Rede vom Glück, Berlin 2008)