»Vorbei die Zeiten, da FRÄULEIN etwas Hochedles und Wohlhabendes und Wohllebendes ist. Etwas selbst Stehendes. Neu sind Bewegte Bilder, sie zeigen Lokomotiven oder die Hand von einem Mann mit Siegelring und Manschettenknöpfen, eine Kurbel drehend und ein Automobil knattert, zittert, stinkt. Er dreht eine Kurbel und läszt damit den Raum verschwinden zwischen ihm und dem Kommerzienrat soundso. So zumindest die Vorstellung des ungehaltenen Telephonabonnenten. Wird man wohl erwarten können. Wie kann denn da immer besetzt sein, Fräulein, ich fordere eine sofortige Verbindung zu Berlin Amt 5, Nummero 1520.
Noch mehr Bewegung, während der feine Herr im weiszen Kragenreifen wartet und entweder der oder er gleich platzt, denn seine Zeit ist ebenso eng, hat sich zwischen die Hausfrau und die Dame ein Drittes geschoben: das Fräulein. Das Fräulein, von dem hier die Rede ist, hat diesen Text zu sprechen: „Hier Amt, was beliebt?“ Das Fräulein ist vom Amt und nichts weniger als von Adel. Im Fräulein, von dem hier die Rede ist, prallt alles aufeinander und nur eine junge, kräftige und starke Frau kann all das aushalten – unter der Voraussetzung, dasz sie nicht stark und kräftig genannt wird. Oder doch? Die Herren sehen die Telephonistinnen nicht, sie nennen sie Fräulein und machen aus ihnen Elfen, süsze Fratzen, Celluloidgestalten und Schlagergeklingel. Kein Call-Center-Agent, weiblich, lächeln müssen sie alle, ist so ein Einwickelpapier für Herrmann, Gustav, Wilhelm. „Hier Amt, was beliebt?“ „Bitte melden!“
Was prallt im Fräulein aufeinander? Ausgerechnet sie, die keine Staatsbürgerin ist, vertritt den Staat und sein Post- und Fernmeldemonopol, ausgerechnet sie ist Beamtin. Allerdings ohne Aufstiegsschancen. Allerdings ohne Rentenansprüche im Falle der Verehelichung. Mit Recht schreibt Oberlehrer Sigismund aus Weimar, der 1912 einen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation ins Leben rief, in der „Zeitschrift der Deutschen Beamten“: „’Frau’ und ‚Beamter’ sind innere Widersprüche.“
„Bitte melden!“ „Hier Amt, was beliebt?“ Erst eine Arbeit für Männer, Unteroffiziere muszten versorgt werden, dann sollen Fräuleins eine kurze Phase ihres Lebens alles geben, anschlieszend sollen sie von Männern genommen werden. Oder auch nicht, sagt gleich Vater Staat. Die allein-entscheidenden Männer, Frauen gibt es nicht, geben an, sie seien geschickter, geduldiger, gebildeter. Deshalb bekommen sie weniger Geld, das ist eine bewährte Logik.
Überall sind die jungen Frauen die ersten: an den Schreibmaschinen, am Telephon, an Rechenmaschinen, an der Buchungsmaschine. Seit 1887 vermitteln Frauen – zunächst versuchsweise – Ferngespräche. Sachlich gesehen macht Technik Männer sachlich und Frauen zu Dingern. Vgl. englisch „Typewriter“, deutsch Tippse.
„Hier Amt, was beliebt?“ „Bitte melden!“ Im Fräulein vom Amt darf kein geschlechtliches Begehren wesen. Eingestellt werden meistens Mädchen, die bei ihren Eltern leben. Und ledig bleiben. Daher Fräulein. Die Begründung (aus den „Weisungen für Umschalte- und Fernleitungsstelle“ 1885 – 1917) geht so: „Das weibliche Postpersonal bedarf zur Eingehung einer Ehe der Erlaubnis der zuständigen Dienstbehörde.
Da sich aber aus der Verwendung von verheirateten Beamtinnen (…) Schwierigkeiten verschiedener Art ergeben können, kann dem unterstellten weiblichen Personal (…) die Erlaubnis zur Eingehung einer Ehe nicht erteilt werden. (…) Das weibliche Personal möge daraus Veranlassung nehmen, den Staatsdienst nicht als vorläufige Versorgung bis zur Eingehung einer Ehe zu betrachten, sondern sich ihm mit voller Hingabe zu widmen. Nur so wird es vor Enttäuschung und Verbitterung bewahrt werden.“
„Hier Amt, was beliebt?“ „Bitte melden!“ Die Zeit war in letzter Zeit so knapp geworden. Die Telefonistin trägt ein Sprechrohr um den Hals und einen Kopfhörer am Ohr. Pro Anschluszleitung ist da eine Klappe und zwei Klinken, eine fürs ankommende, eine fürs abgehende Gespräch. Die Klappe ist das Anrufzeichen. Ablauf: Fragen, Prüfen, Verbinden, Sprechen, Trennen. Insgesamt 20 verschiedene Einzeltätigkeiten. Sitzend, stehend, streckend, steckend, sprechend. Mehr als 20 Kolleginnen neben ihr.
Dem Amt beliebt der Fortschritt. Ab 1900 leuchten im Fernsprechamt Glühlampen auf, jetzt hat die Telefonistin 100 bis 300 Leitungen zu versorgen und kann besser kontrolliert werden. Jeder Verbindungsfehler wird notiert. Dasz viele Fräuleins weg vom Klappentisch und hin zum Kontrolltisch wollen, gereicht ihnen zum Nachteil. Drücken wollen die sich.
Die Sprache ist militärisch. Die Stimme weiblich.
„Hier Amt, was beliebt?“ Die Sprache ist militärisch. Die Stimme weiblich.
„Hier Amt, was beliebt?“ Ganz sorgfältig wählt das Amt bald die Vermittlungs-beamtinnen aus. Denn die moderne Frau hat moderne Krankheiten. Die moderne Frau ist Krankheit. Die Krankheit der modernen Frau ist keine Krankheit. An den Nerven haben es die Leute, natürlich nicht alle, nicht die Gänsemagd und nicht der Flickschuster.
Sie stehen unter Strom, ihre Nervenbahnen sind gespannt, die elektrischen Impulse sind so unsichtbar und so schnell, wer kennt sich noch aus. Überall Leitungen. Neuerdings melden sich Neurologen zu Wort. Neuron heiszt Nerv. Neurasthenie ist die Schwäche der Nerven und die neue Krankheit der neuen Zeit. Kaum behauptet, schon bestritten. Dr. Freud behandelt mit Reizstrom. Als quartärer Krankheitsgewinn kursiert eine solche Diagnose – die übrigens bald obsolet, weil psychiatrisiert wird. Jetzt aber, pünktlich zur Jahrhundertwende, wird die Neurasthenie fast zur Berufskrankheit der Telefonistinnen. Was natürlich nicht geht. Objektiv: Erstens die hohen Anforderungen. Ausweislich einer englischen Studie von 1912 ist es die „fortgesetzte starke Inanspruch-nahme der Sinne: Augen, Ohren, Stimmbänder. Druck der technischen Apparaturen auf Kopf und Brust. Beständiges schnelles Bewegen zur Erreichung der Anschlüsse (Aufspringen, Armstrecken etc.)“. Zweitens die aktenkundigen Telefonunfälle. Es sind Knalltraumata. Und elektrische Ströme, die aus der Telefonleitung auf den Körper geleitet werden.
In den 1920er Jahren erklärt der Neurologe Prof. Dr. Ewald Stier, dasz es sich nur um einen Schreck handle und eine andauernde Nervosität oder gar eine Arbeitsunfähigkeit in das Reich des medizinischen Aberglaubens gehöre. Die für die Oberpostdirektionen gutachtenden Ärzte erschaffen eine neue Krankheit, die die Fräuleins resp. das Amt in Wahrheit plage: Rentenhysterie oder Rentenneurose.
Dr. Stier erkannte, dasz die Fräuleins, die behaupteten, einen Telefonunfall erlitten zu haben, an erworbener Nervosität litten, deren Ursache in einer „konstitutionellen Unterwertigkeit der Betreffenen“ läge.
Soweit zum Belieben des Amtes höchstselbst und seinen umschaltfreien Nervenbahnen.
Paula von Bülow möchte Fernsprech-Beamtin werden
Schicken wir eine junge Dame los, die unbedingt Fernsprech-Beamtin werden möchte. Nennen wir sie Paula von Bülow. Wir wissen nicht, ob sie auf das „von“ besonders stolz ist, sollten aber wissen, dasz dieser Namenszusatz auch um 1900 nicht auf ein Leben in Villa und Wohlstand hindeutet. Wir stellen uns vor, dasz Fritz und Dorothea mit ihren Töchtern Paula und Sophie-Charlotte, ja, leider war den beiden das Glück eines Stammhalters nicht beschieden, erst vor einigen Jahren aus Ostelbien in die grosze Stadt gekommen waren, eine Zukunft lag vor ihnen wie eine grüne Wiese, ein von der Abendsonne überglänztes Stoppelfeld, ein aufgeschlagenes Märchenbuch auf den Knien von Omamama. Mag sein, dasz man bei den Bülows so kunstgewerblich formulierte. Weder Villa noch Gartenhaus war ihre erste Wohnung in Berlin, vielmehr ein immerhin trockener Neubau in Charlottenburg, wo Jahrzehnte zuvor nur das Schlosz stand. „Westen ist immer gut, meine Lieben“, „Und ganz nah am Grunewald“, „Ist nur für den Übergang, wir müssen uns erstmal etablieren“. Ankommenssätze, gesprochen in der Leibnizstrasze, selbstverständlich Vorderhaus, ein elegant-schlichter Putzbau, gelegen zwischen den Bahnhöfen Charlottenburg und Savignyplatz. Eine Anstellung bei Siemens & Halske, das strebte Friedrich von Bülow an, in seiner Branche, irgendwas mit Viehzeug und Getreide sah er keine Zukunft mehr. Auf dem Weg ins Geschäft blieb er immer an der Baustelle der neuen Untergrundbahn stehen, Stralauer Tor bis Bahnhof Zoo, der Mensch des 20. Jahrhunderts, der Ingenieur, der akzeptierte keine Grenzen mehr.
„Die Zeit überschlägt sich wie ein Stein vom Berge herunter und man weisz nicht, wo sie hinkommt und wo man ist.“
Paula: „Papa, ’Die Zeit überschlägt sich wie ein Stein vom Berge herunter, und man weisz nicht, wo sie hinkommt und wo man ist.’ Goethe, 1797.“ Mit einem Henkelkorb, der Haushaltsbesorgungen simuliert, hakt sie ihn unter, geht ein Stück mit ihm mit. „Und irgendwo hat der olle Goethe auch von einem neuen Kapitel der Weltgeschichte gesprochen und wie man später von sich behaupten kann, dabeigewesen zu sein.“ „Aber mein Täubchen, das war doch damals im Krieg …“ Wir und Paula wollen seine Besserwissereien nicht hören, Paula musz geschickt sein und sie ist es. „Also gut, ich gestatte es meinem Fräulein Tochter. Versuche es, Du bist ja flink und geschickt. Und bevor ich …“ Und wie Paula das väterliche bevor und wenn erst und dann haszte. Ein Wartesaal, gallegelb gestrichen. Ein Jetzt wollte sie. Und jetzt ging sie zur Strassenbahn in der Kantstrasze, einmal Umsteigen, Ziel Berlin, Brandenburger Tor. Stadtanfang, der Anfang von etwas Neuem, ein Moment, von dem sie hoffte, ihn später erinnern und benennen zu können.
Die S-Bahn hätte sie schneller befördert. Charlottenburg – Friedrichsstrasze. Kantstrasze, Savignyplatz, Auguste-Viktoria-Platz. Sie träumt sich raus, raus aus dem Waggon, der Strasze, vielleicht auch aus dem eng sitzenden Kostüm mit den ausladenden Ärmeln, der Bluse mit dem Stehkragen, das Äuszerste an Schlichtheit, was sie der Hausschneiderin hatte abtrotzen können, keine Frage, ein schlecht sitzender Traum. Als es über die Spree ging, der Kurfürstendamm versickerte ja praktisch, sah sie, wie sich die Stadt auch hier häutete, der alte Leib abgestriffen wurde, es wurde demoliert und neu konstruiert. Die Wohnhäuser hier hatten kaum 50 Jahre gestanden. Der Spitzhacke gebührte ein Platz neben den neuen Automaten der Lustbarkeit, dem Cinematographen und den Panoramen, suchte man denn nach Sinnbildern. Ein neu erfundenes Wort für eine neu erfundene Sache: die Welt ganz nahe herangerückt, man stand immer in der Mitte und ringsum und rund entfaltete sich Venedig oder das alte Rom oder Helgoland. Oft allerdings auch Schlachten, Waterloo und Sedan und dergleichen. In einigen schaute man, im Sitzen, wie durch ein Opernglas auf wechselnde Bilder, die man vermittels Drehung an einer Kurbel zum Laufen bringen könnte. Stereoskopie wurde das genannt. Es war wie Reisen, vielleicht besser als das. Vieles hatte mit einer Kurbel zu tun, wie hätten die Dinge auch sonst bewegt werden können, wenn es Pferdekraft nicht mehr brauchte? Auch im elektrischen Telephon fand die Kurbel Verwendung. In der Elektrischen, in der Paula sasz, wurde vorn mit Kurbel gesteuert. Und der Schaffner kurbelte das Billett aus seinem Automaten heraus.
Im Tiergarten hatten die Litfaszsäulen Beine bekommen, in Pappsäulen gesteckte Leute marschierten entlang der Trottoirs, auf den Säulen schrien bunte Annoncen um Aufmerksamkeit. Das eine ging ins andre über, das Sehen ins Hören. Doch waren die Menschen nicht alle zu reinen Augentierchen geworden, für die nur noch die glänzende Oberfläche zählte? Paula spürte, dasz sie einen Papa-Gedanken dachte.
Wie war die Tonspur des Kaiserreichs?
Aber greifen wir den Gedanken auf: Wie können wir uns die Tonspur des Kaiserreiches vorstellen? Was klang? Die Elektrische rumpelte und quietschte. Der Schaffner schnarrte mit der Stimme, klimperte Münzen in den Lederbeutel, kurbelte ein Billett heraus. Wir hätten hören können, wie die Droschken über die Brücken ratterten, wie Lastkähne unten hart gegeneinanderschlugen. Wie fliegende Händler und Marktfrauen ihre Ware anpriesen. Marschmusikfetzen herüberwehten. Hufgetrappel liesz erkennen: Kopfsteinpflaster oder Asphalt. Wie in den Höfen Teppiche geklopft wurden. Leierkastenmusik. Wollte man einen Besuch machen, wurde geläutet. Abends und morgens ging der Laternenanzünder herum, die Kinder, die nicht ohnehin Straszenkinder waren und von trauriger Frühreife, hatten sich mit dem abendlichen Rundgang des Mannes zuhause einzufinden. Hörte man das Fauchen der Flamme beim Entzünden? Das Ausrufen der Zeitungsjungen, oft vor dem Stimmbruch. Das stumpfe Schütten der Kohlen, der schwere Schritt der Kohlenträger auf den Stiegen. Das Prasseln des Wassers in die Zinkwanne. Holzböden wurden mit Wurzelbürsten geschrubbt. Das Geräusch des Schreibens auf Papier oder Schiefer – ein Federkratzen oder Griffelschaben.
Paula hatte ihren Fahrschein zerknittert und knippste immer wieder ihr Täschchen auf und zu. Taschentuch, Papiere. Papiere, Taschentuch.
Sie konnte nicht wissen, was sie erwartete. Und wir wissen nicht einmal, wie das Gespräch hiesz, zu dem sie anreiste. Die Begriffe Vorstellungs– oder Bewerbungsgespräch existierten noch nicht. Die Zeit überschlägt sich wie ein Stein vom Berge herunter.
Erst 10 Jahre später entwickelten Psychologen in den USA die Berufsdiagnostik. Sie wollten herausfinden, welche Personen sich für welche Jobs am besten eigneten. Der deutsche Psychologe Hugo Münsterberg entwickelt in den USA Tests für Straszenbahnfahrer und Telefonistinnen, das ist der Beginn der Arbeits- und der Organisationspsychologie. Neue Berufe, Neue Nerven-anspannungen, Neue Seelenkunde-Anwendungsgebiete und Menschen-Klassifizierungen.
Grosser Stern, Kleiner Stern, das Brandenburger Tor war schon zu sehen. Dahinter dann die erste links, Neue Wilhelmstrasze, dann wieder rechts, Dorotheenstrasze 62, Postamt und Telegraphenamt. Ob mann Paula von Bülow ein wenig glänzen liesz mit ihren Kenntnissen über das Berliner Post- und Fernmeldewesen? 112 Postämter, davon 100 zugleich Telegraphenämter.
Im Jahre 1900 haben in Berlin 130.000 Firmen oder Einzelpersonen einen Telefon-Anschlusz. Fräulein von Bülow, was ist ein Münzfernsprecher?
1899 erfolgte die erste Aufstellung eines Münzfernsprechers im Deutschen Reich
Ein Telefonapparat, meist aufgestellt in Hotels, Gaststätten oder Postämtern, der es nach Einwurf von Münzen ermöglicht, eine Telefonverbindung herzustellen. 1899 erfolgte die erste Aufstellung im Deutschen Reich. Das Geldstück fällt in eine Glockenschale, der Ton wird zur Fernsprechbeamtin weitergeleitet, die die Verbindung herstellt. 150 befinden sich hier in unserer Hauptstadt. Bedienen Sie sich denn öfter des Fernsprechers? Wer hat das Telephon zu Fernsprecher eingedeutscht? Richtig: das war Generalpostdirektor Heinrich von Stephan. Woher weisz der eine Fernsprecheinrichtung benutzende, mit wem er in Korrespondenz treten kann? Jeder Theilnehmer erhält eine Theilnehmerliste, deren Reihenfolge nach dem Eingange der Anmeldungen geordnet ist.
Zeigen Sie hier an dieser Darstellung die Benutzung der Fernsprecheinrichtung.
Theilnehmer A wünscht mit Theilnehmer B zu sprechen
Zu diesem Zwecke weckt A zunächst die Vermittelungsanstalt, indem er kurze Zeit (2 bis 3 Sekunden lang) gegen den Knopf a (siehe Zeichnung) drückt, hebt hierauf den Fernsprecher b vom Haken c und hält ihn mit der Schallöffnung gegen das Ohr.
Die Vermittelungsanstalt antwortet: „Hier Amt, was beliebt?“
A erwidert durch den Fernsprecher d: „Wünsche mit Nummer xy zu sprechen.“
Die Anstalt giebt zurück: „Bitte rufen“ und stellt die gewünschte Verbindung her. Oder sie sagt: „Schon besetzt, werde melden, wenn frei.“ In letzterem Falle erwiedert A: „Verstanden,“ hängt den Fernsprecher b wieder in den Haken bis der Wecker ertönt, worauf er denselben wieder abhebt, an das Ohr hält und der Anstalt durch Fernsprecher d seine Bereitschaft mit den Worten: „Hier …“ zu erkennen giebt.
Die Anstalt meldet nun: „Nummer … jetzt frei, bitte rufen.“
A weckt nunmehr B durch nochmaliges Knopfdrücken, indem er den Fernsprecher b am Ohre behält. Nachdem die Gegenmeldung: „Hier B, wer dort?“ eingegangen ist, beginnt er endlich die Unterhaltung mit: „Hier A“ und bezeichnet den Abschluß der einzelnen Mittheilungen, Fragen x. durch „Bitte Antwort“ bzw. durch „Schluß“.
Von der Beendigung der Unterhaltung benachrichtigt A die Vermittelungsanstalt durch letztmaliges Drücken auf den Knopf a.
Sehr gut Fräulein von Bülow, Sie haben sich ordentlich vorbereitet.
Zeigen Sie Ihre Empfehlungsschreiben und das Schriftstück Ihres Herrn Papa, er befindet sich doch in ungekündigter Stellung? Und das ist das Zeugnis des Fürstin-Bismarck-Lyceums, hoffentlich keine Blaustrumpf-Anstalt!
Die Kandidatin war in der Lage, die technischen Grundlagen des Fernsprechers allgemeinverständlich zu erklären. Aber muszte sie das überhaupt können?
Was ist ein Klappenschrank, was ein Vielfachumschalter?
Ein Blick in den Saal, wie einheitlich die Fräuleins wirkten. Schmuck war verboten, zu grosz wäre die Gefahr des Hängenbleibens oder der Verletzung gewesen. Eine Amtsbluse, dunkelblau, bekommen Sie gestellt, darüber zu tragen eine schwarze, geschlossene Schürze, die selbst zu bezahlen ist.
Ja, Herr Oberpostsekretär, ich fühle mich voll und ganz in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen. Ich bin aufmerksam, genau, geduldig, höflich, fingerfertig, habe ein gutes Gehör. Ich spreche keinen Dialekt. Und obwohl der Herr Oberpostsekretär, nennen wir ihn Wilhelm Griegoleit, noch keine Ahnung hat von den enormen Möglichkeiten der kommenden angewandten Psychologie, testet er das Zahlengedächtnis des kleinen Fräuleins vor ihm. Gleichzeitig lenkt er sie ab, indem er mit verschiedenen Glöckchen läutet, die auf seinem Schreibtisch angetreten sind. Sehr gut, Fräulein von Bülow, noch einmal etwas lauter. Und jetzt die gleichen Zahlen von hinten.
Paula von Bülow wird angenommen als Beamtin auf Probe
Wir dürfen annehmen, dasz Paula von Bülow angenommen worden ist als Beamtin auf Probe im Fernsprechamt Berlin NW.
Paula war der Stein, der vom Berge herunter stürzte. Ein stürzender Meteorit, aufgeprallt auf einem fremden Himmelskörper.
Das Oberlicht hatte sich offenbar wieder geschlossen, nachdem der Stein bzw. der Meteorit bzw. Paula aufgeprallt war. Ein hoher Saal, neben dem Oberlicht runde Fensterlaibungen, runde Schmuckkartuschen im Stuck, runde Hängelampen. An zwei langen Tischen sitzen über 100 junge Frauen mit Kopfhörern über hochgesteckten Haaren. Schon einige Jahre ist Paula von Bülow jetzt Vermittlerin. Das ändert nichts daran, dasz ihr Aufprall hier unvermittelt erfolgte und jeden Morgen, manchmal macht sie auch Nachtschichten, unvermittelt erfolgt. Zweiundvierzig Stunden in der Woche ist hier ihr Platz. (Vor einigen Jahren waren es noch 48 bis 54.) Sitzend ist die Reichweite der Arme der Vermittlerin gröszer. Von oben musz es aussehen wie ein Aalkasten oder eine Armee in Auflösung. Arm-Algorithmen.
Es existiert nur ein Photo – Herr von Stephan selig hätte es Lichtbild genannt -das die jungen Frauen stillgesessen zeigt. Wie eingefroren sitzen sie da, ein wirklichkeitswidriges Bild, das gewisz Folge der langen Belichtungszeiten war. Der von der kaiserlichen Postdirektion beauftragte Photograf wollte keine Schlieren auf den Abzügen sehen. Wir können glauben, dasz die uniformierten Aufsichtspersonen, männlich, real stehen, kegelförmige Spielfiguren auf einem Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielfeld.
Vielleicht war es möglich, die Vermittlung für den Moment der Aufnahme auf ein anderes Amt umzuschalten. Paula war im Fernsprechamt Moabit eingesetzt. Berlin Nordwesten, Rathenower Strasze 74, fünf S-Bahnstationen, Ausstieg Lehrter Bahnhof, die Invalidenstrasze links bis zur Rathenower, jedesmal vorbei am Criminal-Gericht und dem Gefängnis, auf der anderen Seite die Kaserne des zweiten Garde-Ulanen-Regiments. Sehr düster und drohend der rote Ziegelrohbau der Justiz und sehr fröhlich die Uniformfarben – grün, gold, gelb, rot, weisz – der Soldaten. Ein entfernter Cousin diente hier als Oberstleutnant. Aber wie nahm Paula die Bauten und die marschierenden Männer wahr? Das eine drohend, das andere attraktiv und beruhigend? Was liesz sie ihre Schritte beschleunigen, wo setzte sich ihr Blick nieder?
„Heute abend schon was vor, mein Fräulein?“ „Wie heiszen Sie reizendes Ding denn?“ „Ich weisz, wo Sie wohnen, gestern abend habe ich Sie bei der Toilette sehen können, nur ein Hemd hatten Sie an.“ Eine der Aufsichtspersonen, entweder das Fräulein Kalckreuth oder Herr Hagedorn war stets der Ansicht, dasz die Telephonistin dem Anrufer Avancen gemacht haben muszte. Anders war ein solch schamloses Verhalten ja wohl kaum erklärlich. Agnes, Hedwig und Louise, die alle in Neu Weissensee wohnten, kamen immer zusammen. Die drei hatten ungefähr zur gleichen Zeit im Amt angefangen, sie tauschten nicht nur Blicke, sondern auch Romane aus, natürlich nur auszerhalb der Dienstzeiten; Paula versuchte in ihr Blicksystem einzutauchen. Ihr schien, dasz die meisten Kolleginnen Kopf und Augen nur soweit hoben, wie es der Klinkentisch erforderte. Als Dorothea neu angefangen hatte und den Spindschrank neben ihr zugewiesen bekam, hoffte sie, ein paar belanglose und freundliche Worte mit ihr wechseln zu können. Dorothea hatte so fragende dunkle Augen. Nach wenigen Tagen war der Schrank wieder leer und es hiesz, sie habe sich als komplett ungeeignet erwiesen für den Dienst im Fernsprechamt.
Schon im ersten Jahr kämpfte Paula mit leichten Anfällen von Schwindel, zunächst nur, wenn sie sich zur Pause erhob, später auch während der Schichten. Sie konnte diese Unpäszlichkeit sauber separieren von der Arbeit, Fragen, Prüfen, Verbinden, Sprechen, Trennen. Fragen, Prüfen, Verbinden, Sprechen, Trennen. Fragen, Prüfen, Verbinden, Sprechen, Trennen.
Es war auch schön, nicht Fräulein von Bülow zu sein, sondern das Amt, es war schön, in etwas gröszerem aufzugehen. Sie alle saszen in einer Glocke aus Geklingel und Geschrei. Lachend hatte ihr schon zu Anfang eine altgediente Kollegin erzählt, dasz alle Telephonistinnen die Geräusche quasi mit nach Hause nehmen würden und es sei anzunehmen, dasz es sich bei weiblichen Opfern von Strassenbahnunfällen grundsätzlich um Fräuleins vom Amt handle, da die ja die Warnklingel nicht mehr hören könnten. Paula hatte mitgelacht und der Ur-Berlinerin versichert, dasz sie sehr stolz und froh sei, arbeiten zu dürfen. Na, denn freu Dir man hatte die geantwortet. Auf dem Heimweg versuchte Paula anfangs die neue Freude von dem auch neuen Druck auf die Schläfen, ein Druck, der rhythmisch kam und ging, auseinanderzuhalten. Gern wäre sie dann den ganzen Weg nach Hause zu Fusz gegangen, die Frau Mutter war aber immer so schnell in Sorge. Kind, Du bist wieder so blasz. Nun isz doch jedenfalls die Suppe. Am Sonntag war die Garderobe zu flicken und zu plätten, alles andere machte zum Glück das Mädchen. Manchmal blieb Zeit für einen Ausflug in den Grunewald oder auch mal nach Potsdam.
Vater spekulierte noch immer auf eine Position bei Siemens und Halske. Er würde in anderen Kreisen verkehren können und seine Töchter würden dann schon sehen und ihren Vater vielleicht bald verlassen, vorausgesetzt, er liesze sie ziehen, das gehörte zu jeder Einkehr an jedem Ausflugstag, wenn Mutter die Stullen auspackte. Der Druck an den Schläfen war unter der Woche zu einem pochenden Schmerz geworden, der an Sonntagen etwas abebbte. Kind, was ist mit Dir? Nichts war mit dem Kind.
Bald erfaszte Paula der Schwindel unvermittelt und in jedweder Situation. Es drückte ihr eine unsichtbare Hand aufs Brustbein und die Möbel drinnen oder die Häuser drauszen standen auf abschüssiger und zitternder Ebene. Nicht immer konnte sie sich irgendwo festhalten. Das Ärgste aber waren die Stromstösze, die durch sie hindurchgingen, auch das ereignete sich unvermittelt in ihrem Körper. Hinzu kam der trockene Mund und das Schwitzen. Paula lag nachts wach und verschlief in der S-Bahn den Halt in Charlottenburg. Sie erreichte das geforderte Arbeitstempo nicht mehr. Fräulein von Bülow, bitte kommen Sie in mein Büro. Alles, nur das nicht. Nur jetzt keine Schwäche zeigen.
Die Geschichte vom Fräulein vom Amt soll ein gutes Ende nehmen.
Die Geschichte vom Fräulein vom Amt soll ein gutes Ende nehmen. Herr Hagedorn oder Fräulein Kalckreuth waren vielleicht milde gestimmt, vielleicht aus echtem Verständnis für die Überanstrengung einer an sich sehr diensteifrigen und dienstfreudigen Person. Vielleicht, weil sie gerade etwas sie froh und optimistisch stimmendes erlebt hatten – doch das fällt schwer, wenn wir uns das pflichtverliebte und festgezurrte Leben eines preuszischen Beamten vorstellen. Vielleicht war es so: erstens: viel drehte sich um die Nerven, die Nerven, die die Menschen durchdrehen lieszen, die die Menschen immer schneller mitlaufen lieszen. Kaum einer, der nicht fand, dasz die Zeit nicht schon nervös und hastig genug sei. (Haben Sie gesehen, bei Wertheim am Leipziger Platz läuft alles mit Rohrpost, auch die Kasseneinnahmen für den Tresor. Keine Boten mehr! Keine Zeit mehr! Ja und unter uns laufen überall Rohrpostleitungen, das ist ja direkt unheimlich.)
Zweitens: Auch in der Illustrierten Damenzeitung war nun häufiger über das Nervenleiden Neurasthenie zu lesen; kaum einer der Stadtbewohner und Zeitgenossen war davor gefeit. Kein Zweifel, Fräulein von Bülow litt darunter. Fräulein, wissen Sie um die Ursache Ihrer Zustände – abwehrend erhobene Hände – oh doch, an der Nase herum führen lassen wir uns nicht. Und ich/ wir als Ihr/ Ihre Vorgesetzten und Dienstherren haben eine Fürsorgepflicht. Auch wenn, wenn in diesem Falle, die Leistung nachläszt – abwehrend erhobene Hände – doch worauf es ankommt, auf die Treue nämlich, über die können wir keine Klage führen. Fräulein von Bülow, hören Sie mich? Haben Sie uns etwas zu sagen?
In Bad Salzhausen
Paula von Bülow sasz vor einer Wand. Ihr fror. Das lag an dem Nebel, ein kalter, von den Bergen herübergewehter Nebel. Die Wand zeigte erst nach und nach die Leitungen, die in sie eingewirkt waren. Wetterleuchten erhellte die grau-braune Wand. Sie hatte jetzt immer eine Decke dabei, wenn sie durch den Kurpark ging. Das neumodische Wort Neurasthenie, dienstherrliche Fürsorge und bescheidene mütterliche Ersparnisse hatten sie nach Bad Salzhausen transportiert. Ihr Zustand war unverändert, der Abstand zwischen den Resultaten der amtsärztlichen Untersuchung von Fräulein von Bülow und dem persönlichen Paula-Befinden wuchs, gerade noch hätte ein Sprung gereicht vom Boot, das vom Ufer forttrieb, um sich an Land zu retten, jetzt hätte es nur noch eine Akrobatin geschafft. Paula war keine Akrobatin. Was war sie? Was war sie jetzt, nachdem sie nicht mehr täglich das Fernsprechamt Moabit betrat?
Würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mit dem Summen aufzuhören? Meine Gattin und ich suchen regelmäszig diesen Park auf, um die Ruhe zu genieszen. Jede Nacht versucht Paula, die niemals Berg- oder Wanderschuhe getragen hatte, diese Wand mit den Leitungen und Steckern hochzuklettern. Wenn sie sich ein paar Meter voran getastet hat, verwandelt sich die Wand in Brei. Es rettete sie in jeder Nacht ein Läuten. Denkt sie an das Goethe-Wort vom sich überschlagenen Stein vom Berge herunter? Denkt sie an Dorothea? Sieht sie die Postinspektor-Uniform von Herrn Hagedorn vor sich, anstelle des Kopfes wackelt ein Porzellan-Isolator? Oder sind es nur die Geräusche, diese treuen Lebensgefährten, die ihre Welt nach dem Amt-Abschiede ausmachen? Was ist noch da, doch das, so wird die gewesene Telefonbeamtin sich schelten, das ist eine ungehörige Frage, wer überhaupt auszer Kunstmaler oder Komponisten hinterlassen denn etwas?
Abgesehen von den Tagen, an denen sie Anwendungen hatte, muszte sie jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Tag allein verwalten, muszte selbst etwas abschneiden vom Zeitstrang.
Die Datierung für diese Kur-Episode könnte frühestens 1913 liegen, denn in diesem Jahr wird ein Post-Erholungsheim in Bad Salzhausen eröffnet.
Paula läuft jede Strasze des Kurortes ab, sie umrundet mehrfach den Kurpark und sitzt zweieinhalb Stunden vor dem Gradierwerk. Anfangs war der Effekt ein gegenteiliger, das leise Murmeln der herabrieselnden Sole beunruhigte sie.
Es unterlag den modernen Paula-Tönen. Es war so weich. Vermutlich bestand sein einziger Zweck in der Ruhigstellung der Kurgäste. Es war ein Anachronismus. Salzhaltiges Wasser wurde hier im hessischen Kurort aus der Erde nach oben zum Kurieren gepumpt. Anschlieszend Eintauchen, Einverleiben oder Einatmen der Sole.
Das Gradierwerk stand im Zentrum des Kurparks, eine mehrere Meter hohe, aus Schwarzdorn-Zweigen geflochtene Wand. Ursprünglich der Konzentration der Sole dienend, welche in den nächsten Arbeitsgängen durch Einkochen zu Salz wurde, diente das nun den Kurgästen im Kurpark präsentierte Rieseln ihrer eigenen Konzentration oder Distraktion und Gesundheits-Reparatur. Es brauchte Wochen, bis Paula die Zweige, über die das Salzwasser rann, nicht mehr als ihre eigenen, nach auszen gestülpten Nervenbahnen ansah. Es war Wasser und es waren Zweige, sonst nichts. Die Luft roch nach Meer.
Geschrieben für La Motta am 11.9.2017 * Danke an Gwen L., an Katja N. – und an Ulli B. * Dazu gab es freie Improvisierte Musik von Doro Offermann (Saxophon) + Luise Determann (Gitarre)