Die Eiskönigin ist eine gerechte Herrscherin, wir erkennen sie an ihren Attributen, dem Eisportionierer in der einen und der Weltschneekugel in der anderen Hand. Gerade inspiziert sie ihre vor 250 Jahren gegründete Eisakademie und prüft die Studierenden ab.
Weit oben im Gebirg, wo die Gletscher flieszen, der Firn rieselt, Lawinen krachen und Eisbretter die Wandersleute narren, trat die Eiskönigin aus ihrem Bild. Sie hatte sich hier in ihrer Winterfrische porträtieren lassen, im ausladenden schwarzen Reifrock, Eiszapfen-bestickt, Schnee-überhaucht, das Haar schwarz und festgegelt, das Gesicht eine weisze Scheibe. Alles war ihrs, alles stand ihr zu Gebote, gedieh in ihrem eisigen Schatten. Eiskühe, die niemand abgeholt hatte, Eisesel, die ewige Einsamkeit umwehte, Eisangler, die mit der Axt die Kruste gespalten hatten. Viele weitere drängten nach vorn, begehrten Namen und Blicke, doch kein Berg, kein Mensch, kein Blatt hätte alle fassen können.
Die Eiskönigin erklärte ihre Zufriedenheit mit dem Portrait des bekannten Eiskünstlers, es glich ihr, es hüllte sie ein, sie konnte aus- und eingehen. In der einen Hand hielt sie die Weltschneekugel, in der anderen den Eisportionierer.
Am Anfang der groszen Ferien hatte sie alle verfügbaren Schneekanonen in Stellung bringen lassen, die törichten Talbewohner krabbelten alljährlich hinauf, alles aufheizend und aufwirbelnd. Irgend jemand hatte ihnen gesagt oder hörte nicht auf, dieses zu tun, dasz die Zeit hier oben langsamer lief, nicht flosz, sondern kroch oder sogar sich selbst vergasz und die Leute somit abschirmte gegen ihren ärgsten Widersacher, das Alter. Sie schienen es umso mehr zu glauben, je mehr Körper das glitzernde Schneetuch zudeckte.
An die Eiskönigin glaubten die Wenigsten. Neben ihrer Militärmacht, der Palastwache und ihrem angeborenen Misztrauen war das der Urgrund ihrer Macht – beruhte diese nicht immer auf der Unwissenheit des Volkes?
Die Eiskönigin inspiziert gerade ihre vor 250 Jahren gegründete Eisakademie. Sie steht allen Untertanen, unabhängig von Temperatur und Statur offen. An den Wänden prangen in barocker Hängung, die Eisheiligen. Die Architektur gleicht einem aufgefalteten Kristall. Was hier zusammen gekommen ist, um das Geheimnis des Frostes und des absoluten Kältepunktes zu lüften, um Eisblumen zu klassifizieren, erinnert kaum an die gängigen Bilder der Tal-Warmblütler von den Bewohnern von Packeis, Eisscholle und Ewigem Eis.
Niemals schafften sie es, zu irgendeinem Phänomen, das auszerhalb ihres eigenen Körpers lag, ein eindeutiges Verhältnis zu unterhalten. Alles wurde ins Kindchenschema gepreszt, in Weichspüler ertränkt, mit Plüsch erstickt. Das kam hier niemals vor. Auch Bäume sind Dreck und Kitsch, wir haben sie überschritten, die Baumgrenze.
In den Korridoren der Eisakademie stehen Sorbet-Automaten in diversen Geschmacksrichtungen wie Kalbsleberwurst, Brokkoli oder Zander. Eiscafé war, abseits gelegen, im Angebot, wurde aber kaum nachgefragt.
Ganz anders war das beim Studium Generale, dessen Kernthema die Eiszeit war. Die Königin war gekommen, einer scheidenden Professorin Tribut zu zollen. Die Geo-Wissenschaftlerin sprach mit ausladenden Gesten, ihre weiten weiszen Ärmel waren silbern mit geometrischen Mustern bestickt.
„Widmen wir uns weiter der Arbeit des Eises unterer besonderer Berücksichtigung der Gletscher. Gletscher sind Pflug, Feile und Schlitten zugleich. Am besten erkennt man die Arbeit des Eises am mitgeführten Geröll. Geröll, französisch moraine. Diese Glazialen Ablagerungen heissen wir Moränen. Moränen sind die bedeutendsten Erscheinungen unserer Glaziallandschaften.“
Auf der Tafel eine Graphik mit verschiedenen Schraffur-Intensitäten, Pfeilen und Bezeichnungen: Obermoräne, Innenmoräne, Grundmoräne, Randmoräne, Ufermoräne, Seitenmoräne.
Die Königin notierte in ihr kleines goldenes Büchlein: „Zweitgröszter intellektueller Genusz: Alles bleibt, wie es war.“
„In der Moräne finden wir Kraft und Resultat, und wie Sie alle wissen, befinden wir uns hier auf einer Endmoräne, geologisch jung. Die bewegten Moränen sind nur zum Teil zu erkennen – Sie sehen hier die Unter- oder Grundmoräne, die sich unseren Blicken zu entziehen pflegt. Sie enthält fast alles, was von der Firnumrandung abwittert (Randschutt), und was unterwegs am Grunde mitgenommen wird (Grundschutt). Dieser Schutt wird am gründlichsten bearbeitet, gerundet, geschliffen, zum Teil sogar durch Schlamm poliert.“
Mit Befriedigung blickte die Regentin über hunderte von gebeugten Rücken, man schrieb mit und zu ihrer Zeit war es nicht anders gewesen und so sah sie Kieselsteine vor sich, gerundet im Prozesz des Wissens, an dem sie Teil hatten.“ Sie flosz, war unrein und schön …
In diesem Gedankengeschiebe, je weiter der Weg, desto kleiner die Geschiebe, wurde sie durch den Nebelhornklang ihres Mobilfernsprechers gestört.
Das Gespräch war streng geheim, weshalb die Herrscherin eine der Styropor-Kabinen am Ausgang aufsuchte.
Sie hatte erste Anweisungen in einer leidigen Angelegenheit gegeben und würde nach diesem Termin Rücksprache halten bezüglich der weiteren Gegenmasznahmen. Halbsekundenlang meinte sie, die geschätzte Professorin, gerade in rotierenden Armbewegungen, wisse, welcher Art das königliche Alltagsgeschäft sei.
„Mure und Moräne, so kurz das eine, so majestätisch das andere, sind beide von unterschiedlicher Gewalt. Weshalb die Mure, ein Schlamm- und Gesteinsstrom, der zu Tal geht, unsere wirksamste Verbindung ins Tal …“
Die Eiskönigin bedeckte die aktuelle Seite ihres goldenen Büchleins mit Zeichen. Ihr Kopf zerkleinerte die Aufgaben des Tages.
Die scheidende Professorin, wurde am Ende mit Blumen, Blasmusik und belegten Broten bedacht. Zum nächsten Termin nahm die Eiskönigin den Prunkschlitten, wobei dies Gefährt dem übernächsten Besuch galt, der nächste war eingeschoben.
Eine unscheinbare Halle, weiszes Wellblech barg das Zeughaus, das Waffenarsenal, die militärische Schaltstelle der Gebirgsregion der Regentin. Von einer Soldatin im Range eines Eisleutnants liesz sie sich die Abwehrmasznahme erläutern. Sofort nach Bekanntwerden einer Verletzung des Territoriums durch ein Filmteam habe sie die Königin und Oberbefehlshaberin informiert und alles vorbereitet zum Abgang einer Mure. Gemäsz den Berechnungen habe der Eis-Schlamm-Strom die Eindringlinge, die übrigens Probeaufnahmen für Mode-Shootings machen wollten, auf ihrem Weg gekreuzt und mit in Tiefe, Tod und Unkenntlichkeit gerissen. Die Eiskönigin liesz sich die Aufnahmen zeigen, motivierte die Soldatin durch Lob und sprach noch ein grundsätzliches Problem dieser Art der Gefahrenabwehr an.
„Wo sehen Sie denn das mittel- und langfristige Problem? Ich nehme an, Sie kennen den letzten Aufsatz von Periduhn und Gotthart.“ Die Gefragte nahm noch mehr Haltung an, sie hatte alles gelesen, sie war kundig, sie war kritisch, sie war auch langatmig. „Kurz gesagt“, so schlosz sie in Kenntnis ihres Eifers, „Kurz gesagt, Eis haben wir genug, aber mit jeder Mure verlieren wir kostbares Basisgestein. Damit aber nähern wir uns in geologischen Zeiträumen dem Feind an.“ Die Eiskönigin tätschelte der Soldatin die Wange und nahm sich vor, sie bei der nächsten Beförderungsrunde für die Versetzung ins Oberkommando vorzuschlagen.
Zum nächsten Termin, der Denkmalsenthüllung wurden die Eiskönigin und ihr Gefolge mit groszem Eiszapfenstreich empfangen. Der Platz, noch ganz von einer Schneewehe bedeckt, war gesäumt von hunderten Eispyramiden, die in ihrem früheren Leben fallende Wassertropfen waren.
Das Denkmal galt der unbekannten Zahl; es war greifbares Projekt des staatlichen Konsenses zur viele Schichten mächtigen Debatte über die Eiszeiten-Anzahl des Quartär.
Während ein Dutzend Eisgnome das Denkmalsfeld freischaufelten und -fegten, erinnerte die Eiskönigin an die Relevanz des zumeist „Nummern-Streit(s)“ genannten Diskurses:
„Mich und mein Haus, uns haben Zahlen nie interessiert. Zahlen sind tot. Wir stehen nicht am Grab und nicht am Ende der oder einer Geschichte.“
Ein täuschend echt klingender Wind unterstrich die Bedeutung des gesprochenen Wortes.
„Womit ich nicht meine, dasz es irrelevant ist, ob es 6, 13 oder vielleicht auch 19 Eiszeiten gab. Wir können beruhigt sein, dasz unsere WissenschaftlerInnen der Eisakademie und viele weitere Privatgelehrte fragen, suchen, forschen. Nein, meine liebe Bevölkerung, wir halten die Frage nach der Zahl offen und schlieszen sie hier und heute symbolisch, weil es die Frage nach der Gegenwart ist. Unser Leben ist zu kurz, um die Frage zu beantworten: in welcher Zeit leben wir? Befinden wir uns in der Nacheiszeit oder der Zwischeneiszeit oder haben wir Anlasz und Hoffnung, von einer Voreiszeit zu sprechen?“
Leider hatten die Gnome mit den Schaufeln die weisze Schnee-Abdeckung dergestalt entfernt, dasz sie einen soliden Wall rings um die Skulptur bildete. Nur einige Spitzen, Kuppeln und knopfartige Verdickungen ragten heraus.
Der nächste und für heute letzte Termin der Eiskönigin lag in einem abgelegenen Seitental. „Labor“ wurde die Einrichtung allgemein genannt, die Vorsilbe „Eis“ liesz man hier oben weg.
Der Weg führte an groszen, kleinen, engen, breiten, hohen und niedrigen Käfigen vorbei. Die Eiskönigin befand sich im Gespräch mit Grau-Kitteln. „Vor allem möchten wir heute gerne mit Majestät über das hochgeheime Projekt Tal-Pipeline sprechen.“ „Sie wissen, dasz ich keine Befürworterin einer derartigen Verbindung nach unten bin. Ich erwarte, dasz Sie mir eisklar Genese und Gründe darlegen.“ Mit der Annäherung an das Kuppelgebäude aus dunklem Granit schwoll das Motorengebrumm an. Die Eiskönigin blieb neben einem der Käfige stehen. Die Kittel-Leute drückten Schultern hoch, lieszen Arme kraftlos baumeln. Sie sah es nicht, da ihr Blick dem Käfiginhalt galt, zwei zurückgezüchtete oder gezüchtigte oder sonstwie urtümlich wirkende Menschen hockten da und lausten einander. Eine der Labor-Mitarbeiterinnen schien die königlichen Gedanken zu erraten: „Selbstverständlich sind alle Probanden geimpft, desinfiziert – und werden regelmäszig gewaschen. Sehen Sie dort oben, das sind die Waschdüsen.“ Die Königin wandte sich andeutungsweise dem Laborteam zu. „Das Lausen – Reste sozialen Verhaltens?“ „Gewisz, ja. Wir behalten sie zwei Wochen hier drauszen zu Testzwecken. Können wir Ihnen nun im Arcanum unsere eigentliche Laborarbeit präsentieren?“ Huldvoll nickte die Herrscherin.
Der fensterlose Raum wurde von den chromblitzenden Fassaden der Kühlschränke und Kältemaschinen begrenzt. Darüber wölbte sich die ultramarinblaue, besternte Kuppel. „Ausgangspunkt unseres Projektes, das uns dringend benötigtes Kapital einspielen soll, war tatsächlich der Eisschrank als solcher, Kollegin Pennebrokers, wie war das?“ Die Angesprochene hob die Brauen bis zum weissen Vlieshäubchen: „Oder eigentlich die Truhe. Die Kühltruhe.“ Weiter ging es zur Schaltzentrale in der Mitte des Raums, wo Pennebrokers auf einige Artikel aus der Tal-Groszbuchstaben-Presse wies. „Eine schöne, eine poetische Idee: die letzte Ruhe in hermetischer Abgeschlossenheit, bei konstanter Temperatur von 21 Grad, minus natürlich.“
Die Eiskönigin blähte hörbar die Nasenflügel: „Unserer Kultur durchaus fremd!“ Eine andere Labormitarbeiterin übernahm: „Gewisz, ja. Diese neue Tal-Sitte der häuslichen Kältebestattung von überzähligen Kindern war uns nur Anknüpfungspunkt. Wir entwickeln die Idee für unsere Zwecke weiter …“ Der Königin wurden auf einem liegenden Bildschirm in schneller Folge technische Apparaturen präsentiert.
„Fassaden, Hochglanz, Äuszerlichkeiten. Ich will etwas über Ihre Idee wissen.“
„Gewisz, ja. Wir verfeinern die Lagerung durch eine zeitnahere Einlagerung, durch Frische und Luft und wir machen das überaus ästhetische Resultat nutzbar für uns – wenn auch vordergründig zunächst für die Talbewohner. Gesteuert wird das Ganze von 12 leistungsfähigen Hochleistungsprozessoren.“
„Zeigen Sie mir nun einen Ihrer neuen Grosz-Freezer, der soviel gekostet hat wie drei Sprungschanzen!“
„Diese sechs Geräte sind Chargen-Freezer der neuesten Generation. Bei diesem hier haben wir ein Bullauge in die Seitenwand installiert. Nach Art einer altertümlichen Waschmaschine läszt sich das Geschehen hier verfolgen. 30 Grad minus, 8 bis 12 Minuten pro Charge, bis zu 100 Liter Eiskrem pro Stunde, Luftaufschlag 30 bis 50 Prozent. Ein ästhetischer Hochgenusz, meinen Sie nicht, Hoheit?“
Hoheit gab ein zustimmendes Grunzen von sich und erbat sich gestisch weitere Erläuterungen. „Sie bemerken den völlig ruhigen Lauf des Freezers – das liegt auch am federnd aufgehängten Spatel, der hier gerade das frische Rot spiralig durch die Masse zieht.“ Ein contemplativer Moment, den die Königin abbrechen muszte. „Wie frisch, was heiszt das?“
„Das bedeutet, dasz die Probanden, wie auch die übrigen tierischen Inhaltsstoffe, dazu vielleicht gleich noch ein paar Worte, hier zunächst in situ, in unserem geschlossenen System durch Erhitzung pasteurisiert, dann schock-gefrorenen werden. Schon dadurch werden die Farben so intensiv! Roter als rot, roter als Blut gewissermaszen.“
„Bitte zeigen Sie mir nun die Konsistenz, 30 bis 50 Prozent Luftaufschlag, wie erreichen Sie diese Werte?“
Man nahm sich nun viel Zeit für dies hochwichtige Thema der Speiseeiszubereitung, das Ziel war 60 bis 70 Prozent, man arbeitete daran. Die Eiskönigin hörte die Ausführungen der Labormitarbeiter, prüfte olfaktorisch, optisch, haptisch und konnte ihre Anerkennung nicht verhehlen. Sie war eine gerechte Herrscherin. Anschlieszend geleitete das Team sie in die Marketing-Abteilung, wo die Themen Absatz-Strategien, Materialwirtschaft und Pipeline-Bau und Unterhalt zu Vortrag und Diskussion gelangten. Der Nachschub an menschlichem Material, meist Probanden genannt, war aufgrund von Einsparmasznahmen bei der Bergwacht gesichert. Das Meeting gestaltete sich zur Zufriedenheit der Herrscherin.
Der Weg zurück in den Palast war weit. Die Eiskönigin hatte Musze, die Bilder und Aufgaben des Tages Revue passieren zu lassen. Ihre Kutsche passierte die Eiskühe, die gerade ihr abendliches Brüllen erklingen lieszen und sie dachte an den Klang ihres Fernsprechers, der ihr durch sein Schweigen Freude bereitete. Sie passierte die Eisangler, die sich in perfekten vierköpfigen Formationen zusammengefunden hatten und dachte an die Schönheit der Moräne in ihrer gezeichneten Form. Bei den einsamen Eiseseln, die sie nur schemenhaft erkennen konnte, dachte sie an die Bedrohungen von unten und ob es taugte, neben dem Altbewährten auch Neues einzusetzen, nämlich den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, oder besser, ihn bei seiner Gier und Verderbtheit zu packen. Der gegenwärtige Stand der Forschung reichte keineswegs aus, um das letztgültig zu entscheiden. Am Pasz stieg sie aus, um aus alter Gewohnheit ein paar Schneebälle zu formen und den Steilabbruch hinunter zu werfen.
Auf dem Schreibtisch des Palastes stieszen die Akten und Papierstösze wie Eisschollen aneinander.
Am Abend stieg die Eiskönigin mit Hilfe einer Falltür aus ihrem Reifrock, die Eiszapfen wuchsen nach über Nacht, die Zofe hauchte neuen Schnee darauf.
Die Eiskönigin legte Weltschneekugel und den silbernen Eisportionierer auf den Nachttisch.
Dann trat sie zurück in ihr Eisbild, ihr Abbild. Winter umhüllte sie, Furcht und Vertrauen trug sie.
(geschrieben für Milli Vanilli und La Cumpanei, August 2008)