Die dreizehnte Fee und die Königstochter
Es war einmal ein kluges und wiszbegieriges Kind, welches durch elterliche Ungeschicklichkeit ein Unglück erlitt und nachfolgend noch weniger Chancen hatte, den eigenen Ehepartner zu wählen als Kinder derselben Klasse und Zeit und Ortschaft. Stellen Sie sich vor, dasz der Name des weiblichen Kindes bislang unbekannt war. Es ist heute jedem als Dornröschen (La belle au bois dormantì oder englisch Sleeping Beauty) bekannt. Doch das galt nicht für ihre ersten fünfzehn Jahre, in denen die Eltern es beschützen wollten vor meinem abgemilderten Fluch, aber imgrunde vor dem Erwachsenwerden, vor der Freiheit, vor der Welt.
Einhundert Jahre also stillgestellte Zeit, eine unvorstellbare Menge an K.O.Tropfen intus, eine Intensivform von Chronique Fatique Syndrom.
Eine dornige Hecke umschlosz das Schlosz, ach, das war sehr hübsch, nur von oben war es noch sichtbar. Nach einhundert Jahren lagen in ihr zahlreiche tote Prinzen, in ganz unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Sie hatten sich, vom Prinzessinnen-Narrativ angelockt, zum Dornenwald aufgemacht hatten und waren elend drin verreckt. Daran hatte ich übrigens keinen Anteil. Ich vermute, dasz keiner mit dem richtigen Equipment aufgebrochen war. Lese- und Seelenkundige meinen, hier ein Bild der männermordenden „Vagina Dentata“ zu sehen. Das ist nicht mein Beritt.
Ich sollte noch vorausschicken, dasz die beiden Eltern, Königsleute, also Königin und König, lange ungewollt kinderlos waren. Sie warteten und warteten auf Nachwuchs, und immer wieder muszte die Königin ihrem Mann sagen: Schatz, wieder nichts, ich blute wieder. Das nagte an hoheitlicher Libido und Lust und bestimmt verwandelten sich Blicke und Andeutungen des Hofstaates in königinnen- und königlichen Stresz. Warten. Die Farbe schwindet aus den Dingen, Menschen ziehen sich zurück, die Zeit zieht einen hinten am Kragen hoch. Es gab damals noch keine Kinderwunschkliniken. Zu einer genauen Datierung dieser Story kommen wir gleich noch. Das Warten ist eines der wichtigsten Motive in dieser Geschichte. Das haben mir eine Germanistin und eine Märchenerzählerin erkärt. Aber für mich steht etwas Anderes und Gröszeres im Vordergrund.
Wahrscheinlich wissen Sie noch nicht, wer hier spricht. In jedem Märchen gibt es einen allwissenden und überzeitlichen Erzähler. Ich bin mehr als das: ich bin eine Erzählerin und ich bin ewig und blicke von weit oben auf das Geschehen. Ich bin die dreizehnte Fee. Ich bin Audette.
Lassen Sie mich erzählen, wie sich die Geschichte um das Mädchen hinter der Dornenhecke wirklich abgespielt hat. Sie sollte wirklich einen Namen haben. Es sollte keine Geschichten ohne Titel und keine Personen ohne Namen geben.
Sie hiesz Agnes.
Falls Sie mich nicht unter der Berufsbezeichnung FEE kennen: In Grimms Märchen werden wir nicht Feen, sondern „weise Frauen“ genannt. Lassen Sie mich das kurz erklären: Die Br¸der haben getrickst. Sie behaupteten, die Frauen, die ihnen die Märchen erzählten, seien „echt hessische Bäuerinnen“, seien aus dem Volke und es handele sich demzufolge um „deutsche Volksmärchen“. Betrachten wir das als gröszte Grimmsche Märchenerzählung. Keine war Bäuerin, die meisten waren hochgebildet. Und sie waren französisch geprägt.
Alle Gewährsfrauen hatten französischen Migrationshintergrund. Ihre Familien hatten einst vor religiöser Verfolgung fliehen müssen und landeten in der Nähe von Kassel. Die literarische Vorlage für die nach den napoleonischen Kriegen so populären deutschen „Kinder und Hausmärchen“ war aus dem späten 17. Jahrhundert und dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten, der Autor hiesz Charles Perrault, ein angesehener Pariser Jurist, Mitglied der Academie Francaise. Es waren Oberschichts-Geschichten. Fazit der sich an ihren Gründervätern abrackernden GermanistInnen: die Grimms entsexualisierten, verchristlichten und verharmlosten Perrault.
„Contes de Fees“ hiesz eine Sammlung von Perrault. Ich erinnere mich gut, dasz
der Mann mit der Allongeperücke sich von einigen von uns beraten liesz, Abenteuer und Alleinstellungsmerkmale aufnotierte. Und wir gemeinsam den Faden weiterspannen. Und dann die Grimms 120 Jahre später: „Feen“, das klang den Grimms welsch und verhaszt. „Weise Frauen“ lieszen sie drucken.
Ich nun nenne mich aber nicht gern „weise Frauì“ weil das allzusehr nach Heilerei, Kräutergarten, Geburtsvorbereitung (wie auch Verhinderung derselben) klingt.
Ich bin die Fee Audette. Hören Sie meinen Bericht.
Eines schönen Abends gingen die Königlichen Eltern ins Hoftheater. Ja, es steht nicht bei Grimm, ich, Audette, weisz es aber. Sie sahen ein nicht jugendfreies französisches Stück, in dem es um Ehebruch und sexuell übertragbare Krankheiten geht. Mit Pause dauerte es dreieinhalb Stunden. Agnes sollte, nein, durfte ihre Algebra-Aufgaben fertig machen. In Algebra war sie übrigens richtig gut. Sie liebte das Logarithmisieren und das Quadratwurzeln ziehen. „Nicht zu lange!“ Hiesz es. „Und dann früh ins Bett gehen.“
Agnes hatte also sturmfreies Schlosz und erkundete ungestört die verwinkelte und verbaute Residenz. Es ist zu fragen, warum sie nicht die Schlosztreppe hinabschritt und sich Wind um die Nase wehen liesz. Leider ist weder Wetter noch Jahreszeit des fatalen Ereignisses überliefert. So müssen wir schlieszen, dasz sie eingeschlossen war im Schlosz. Fünfzehn Jahre war sie und im verheiratungs-fähigen Alter. Das Land, über das die Eltern herrschten, litt fünfzehn Jahre unter einem Spindel-Verbot. Garn muszte importiert werden.
Agnes also stieg eine steile Stiege hinauf und betrat eine Kammer, in der, weitab von Schloszbetrieb, Wirtschafts- und Wohnräumen eine alte Frau sasz und Flachs spann. Lustig sprang die Spindel hin und her. Des Spinnens Unkundigen mag die Bewegung des Holzstabs mit der Pilz-köpfigen Verdickung unten wie das Zappeln eines lebendigen Wesens erscheinen.
Die alte Frau hatte eine Spindel in der Hand. So steht es geschrieben. Es erfüllt sich mein Fluch: Stich und Peng: alles erstarrt. Leider war meine Prophezeihung ja verwässert worden von der Feen-Kollegin, die mir folgte. Die ich leider übersehen hatte. Na, sie war auch die Fadeste und Un-inspirierteste von allen.
Dank der überlieferten Tatsache, dasz Agnes sich an einer Hand-Spindel verletzt, können wir die Geschichte datieren. Vor nach Menschen-Ermessen wirklich langer Zeit ereignete sie sich. Handspindeln waren in Deutschland vor dem 15. Jahrhundert üblich, dann haben die Frauen am Spinnrad Fäden aus Wolle und Flachs und bestimmt auch aus Wörtern und Sätzen gesponnen. Mit dem Fusz wurde das Flügelrad betrieben. Jetzt war die Spinnerin festgestellt. Vordem liefen die handarbeitenden Frauen herum und spannen, oder sagen wir, sie konnten es tun wie heute telefonieren und gehen oder Getränke zu sich nehmen und Telefonieren. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich die alte Frau in das obere Stübchen des Schlosses gesetzt habe, einen Teil, den nie ein Schloszbewohner vorher betrat, eine Frau noch dazu, die niemand von ihnen kannte, dann verweigere ich dazu die Aussage.
Oh, ich blicke gerade in ratlose Gesichter. Offenbar irrte ich in der Annahme, jederfrau und jedermann sei das Märchen um mich, der 13. Fee, bekannt.
Nun gut, kleine Auffrischung: Das mit der langen Warterei auf die Schwangerschaft hatte ich ja schon erwöhnt.
Da „der König sich nicht zu lassen wuszte vor Freude“, ich zitiere wörtlich, veranstaltete er ein groszes Fest. Und die Königin? Sie hatte eine tüchtige Wochenbett-Depression, was damals aber noch unbekannt war. So war sie nicht in die Festvorbereitungen involviert. Daran musz es gelegen haben: man „vergasz“, mich einzuladen. Ein Affront, der seinesgleichen sucht und nicht finden wird. Eine unverhüllte Aggression, auf die ich reagieren muszte.
Die Begleitumstände, die der tumbe und zurecht namenlose König in diskulpierender Weise vorbrachte, machen den Skandal nur infamer: er habe nur 12 goldene Teller im Schrank gehabt, wir aber seien 13.
Unfug: Wir sind 13 mal 13 mal 13 Feen. Agnes konnte das später ganz fix rechnen. Jetzt aber war sie noch ein süszes Baby mit einer schwarzen Haartolle. Den Teller-Set hätte er nachbestellen können, die Nachkaufgarantie bei Goldgeschirr beträgt wie jeder weisz 250 Jahre.
Ehrensache, dasz ich auch ohne Einladung bei der Party auflief. Ich trug mein rotes Wut-Gewand mit den schwarzen Hexenstichen.
Ich betrat das Schlosz durch die Küchenwand. In diesem Moment befand sich nur ein Küchenmädchen in dem gotischen Gewölbe mit den lodernden Feuern und den modernen Induktionsherden. Ich kannte das Mädchen mit den raspelkurzen Haaren irgendwoher. Die Grimms machten aus ihr übrigens einen Küchenjungen und lieszen ihr durch den Koch eine Ohrfeige verpassen. Das hielten sie wohl für lustig. Sie hiesz Cecilie und hatte Augen wie Bergseen. Gerade formte sie aus Marzipan unförmige Tierfiguren, stellte sich mir in den Weg und sprach: „Hallo Frau Fee, ich interessiere mich für eine Ausbildung zur Fee. Können wir einmal …“Ich muszte sie leider unterbrechen, schaute gleichzeitig durch eins der Fenster in den Saal und küszte sie auf den Mund, weshalb ich dann doch nicht richtig unterrichtet war über das Geschehen. Cecilie hauchte ein „Ja“ und blieb wie angewurzelt stehen. Sie war die erste, die für 100 Jahre …, sie wissen schon, ich wuszte das zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Durch dieses abgebrochene Job-Interview kam ich zu früh oder zu spät in den goldenen Festsaal. Wer das Märchen kennt, kennt nicht die wahren Werte der kreuzbraven Feen. Märchen: Tugend, Schönheit, Reichtum. In echt wünschten die Feen, die sich alle falsche Nägel angeklebt hatten, lange Krallen in Gold, mit Herzchen oder Straszsteinchen: Empowerment, Selbstmotivation, Gender-Sensibilität, Diversität, Sei Authentisch!, gute work-life-balance, Inclusivität und Exclusivität, Resilienz, Achtsamkeit, Kreativität, weibliche Superpower, Selbstwirksamkeit, Entschleunigung und wenig Mental Load und viel Street credibility. Die Schnepfen schrien alle durcheinander. Zählen unmöglich, aber das müssen mehr als elf beschissene Wünsche gewesen sein.
Die Kleine in der goldenen Wiege brüllte wie am Spiesz und wurde rausgerollt. Ich zauberte mich in die Mitte des Saals.
Der König zupfte sich seinen fusseligen Bart, die Königin hustete ihr nervöses Husten als ich mit lauter Stimme sprach: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Ich hätte umfallen sagen sollen, aber hier hielt ich mich an das Grimmsche Script.
Es herrschte Totenstille, wie ich es gewohnt bin nach meinen Auftritten.
Die späten Eltern stimmten ein unstandesgemäszes Gegreine an, einige Hofschranzen begannen eine Choreographie des Haare-Zeraufens. Und dann Auftritt der faden Achtsamkeits-Schlampe, also, Fee. Konnte noch nie etwas stehen lassen, immer schwankend, Harmonie-versessen. Und hatte offenbar ihren Part versemmelt, sie wäre ja vor mir dran gewesen.
Na, und sie dann: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“
Das ist unprofessionell, aber so richtig. (Der Kollegin ins Handwerk pfuschen.) Ich war schon drauszen. Gewinn für mich: einhundert Jahre löffelte ich süsze Rache, stellen Sie sich ein Frühstücksei vor, dreieinhalb Minuten, das niemals leer wird. Die fünfzehn Jahre vergingen mir wie fünf Minuten. Ich beobachtete die kleine Agnes immer gern, wenn sie mit ihrem Pony in den Fluszauen ausritt. Es fehlte ihr an einer richtigen Freundin. Ich unternahm einige Kuppel-Versuche, gewann aber den Eindruck, dasz Agnes zuwenig Interesse an Freundschaften zu Menschen hatte. Ob hier die beschissene Party-Wunschliste eine Rolle spielte, vermag ich nicht zu sagen. Partys wurden im Königreich übrigens gar nicht mehr veranstaltet. Das richtige Einladen haben sie übrigens nicht mehr gelernt, die verspannten Eltern.
Und dann geschah, siehe oben, der geplante Spindel-Unfall.
Und ich löffelte die kˆötliche Rache und führte manchmal ausländische Feen-Delegationen durch das Schlaf-Schlosz, wo wir einigen Schabernack mit den lebenden Statuen aus Mensch und Tier trieben. Die Marzipanschweinchen des Küchenmädchens glichen eher Meerschweinchen, waren aber sehr wohlschmeckend.
Was nun nach Ablauf der einhundert Jahre geschah, entzog sich meinem Einflusz, nicht aber meiner Kenntnis.
Hier hatte irgendeine andere, eine wirklich böse Fee reingepfuscht. Die Grimms lassen das Mädchen, hilflos, noch schlafend von einem fremden erwachsenen Mann küssen. Monsieur Perrault deutet eine Vergewaltigung an. In aller Ausführlichkeit wird das Wiedererwachen des Hoflebens geschildert, das Feuer, die Fliegen an der Wand, die Tauben, die Hunde, die Pferde, das Küchenpersonal – alles alles – regt sich wieder. Die Marzipanschweinchen fehlten als einziges.
Aber was ist mit Agnes, die Algebra und Ausreiten mag? Von der keine Zustimmung oder gar Freude über die Kinderehe überliefert ist? Nur ein Mann, lebenslänglich, das paszte nicht zu Agnes, es paszt in die Grimm-Zeit.
Es ist ihr Ende, das allgemeine Vergnügen? Ist hoffentlich für Alle alles vorbei mit Agnes Ableben? Denn so klingt das Märchen aus:
„Sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.“