Eine Qigong-Geschichte
Annika war endlich doch eingeschlafen. Die Träume fielen über sie her wie hungrige Saatkrähen. Schon stocherten sie mit ihren spitzen Schnäbeln in dem Tagesresthaufen, den Annikas Memorialmüllwerker-Trupp zusammengefegt hatte. Ein paar Kabelreste, ein paar ehemals bunte, halb in die Erde eingearbeitete Kleidungsstücke, Furchen, Tonmurmeln, das war alles, was am nächsten Morgen noch übrig bliebe, wenn Annika aus groszer Aufwachhöhe auf die erdige Nacht hinter ihr blicken würde.
Es brauste und toste über dem Feld. Die Vögel schrien in fremden Stimmen, sie schrien ein langes Schie und ein kurzes Ki. Sie schwärmten und schlugen mit Schwingen und hackten mit Schnäbeln.
Aus dem Schie wurden Skistiefel im Feld, aus dem Schie wurde das Land, aus dem alle Konsumgüter waren. Einige waren offenbar untergepflügt. An- und abschwellender Ton, Verben ketteten sich an den Ruflaut: das Schielen und das Chillen. Abschwellend erschien eine kleine rote Schote im Klangchor, das war ein Gewürz. Dann war nichts herausziehbar aus dem Gebraus des Schies. Es war der Moment, in dem Annika sich einmal herumwälzte in schon stark zerwühltem Bett.
Schiewawas, Schimpansen, Schiespringen, Schimmel, Shirin, Shiva, Sheila, She – he – it.
Es hing bestimmt mit ihrem Beruf zusammen, Daz, Deutsch als Zweitsprache, wie sollte eine da abschalten, selbst hier auf Kur, überall Sprache, sie muszte das ja sortieren, zuerst phonetisch, dann lexikalisch.
Schienenstrang, Schiemiebaukasten, Schiefertafel, was war das schwierig zu erklären, vom Schienenstrang abgesehen. Sie malte zwei parallele Linien, die sie in gleichmäszigen Abständen durch senkrechte Striche unterbrach. Die meisten schienen das zu verstehen. Aber die anderen Dinge aus früherer deutscher Jugend riefen Momente hervor, in denen ihre SchülerInnen ratlos von ihren Smartfohnen aufsahen. Und kam es zum Schienenersatzverkehr, holte sie etwas weiter aus, Komposita – zusammengesetzte Hauptwörter. Eine deutsche Eigenart. Da machen wir mal einen Satz draus. Einzelne direkt ansprechen. An die kurzen Namen konnte sie sich eigentlich noch schlechter gewöhnen, als an die langen: Bo, Hao und Lan kamen aus Schina, Ha, Hang und Ahn aus Vietnam.
Auf einmal wirbelte ein Wind alle Vögel durcheinander, sie stoben auf, sie trieben ab. Das war das Schie, das läszt sich mit Hauch, mit Pneuma, mit Atem übersetzen. Um es den Deutsch-Lernenden zu vermitteln, stellte sie die Beine hüftbreit auseinander, stemmte die Arme in die Hüften, verlagerte Gewicht auf den Vorderfusz und wieder auf die Ferse, dabei atmete sie bei der Bewegung nach vorne hörbar aus.
Nicht blosz über Schienenstränge wehte ein Wind, auch andere Bahnen durchzogen das Land. Graue mit zum Rand parallelen Trennstreifen in der Mitte.
Überall bewegten sich Metallschachteln und auch überall stockte der Flusz, wenn man denn die Bewegung von etwas Festem einen Flusz nennen kann. Die Träumende fand sich wieder neben dem Asphalt und hoch über ihr und vibrierend und dröhnend ein Eisernes Gefährt mit gefährlichen Rädern.
Eine Kinderangst wurde wachgerufen, ein unmittelbares Erschrecken vor einer Lokomotive oder einem Traktor. Die auf dem Bildschirm gesehenen Traktoren einer Blockade-Aktion von Landwirten verwandelten sich in die Ungetüme ihrer Kindheit. Die Zugmaschinen wurden entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung eingesetzt, stöpselten Autobahnen zu und unterbrachen Waren- und Finanz-ströme. Schon wurde der Schaden beziffert und wurden Strafen erwogen.
Mit der Entfernung gewannen alle Verbindungsbahnen an Schönheit. Das galt gleichermaszen für Bundesautobahnen wie für die roten und blauen Blutbahnen um männliche Menschen. Im Vorbeigehen, aus dem Fenster, sahen die korallenroten Muskelpakete wirklich zum Anbeiszen oder besser zum Anbraten aus. Es war aber wie in der Werbung: Das Gericht sah nach dem Auspacken längst nicht so schmackhaft aus. Meist war es ein fehlfarbener Klumpatsch. Feiner und ästhetischer die Linien des Blutes und das Geäst der Nerven. Was gab es noch?
Neben dem Türrahmen noch ein Haltestellenplan ohne Stationsnamen, grüne Knubbel-Punkte, von denen oft kurze Stichstrecken abgingen. Lymphbahnen. Das Nervengeflecht und all die anderen schienen sich nie gegenseitig zu blockieren oder auch nur zu kreuzen. Einige oder alle gehörten zusammen, das war jedoch nicht Thema der Rolltafeln in dem Raum, in dem Annika flieszende Bewegungen mit den Armen ausführen sollte.
Das Ziel war der Flusz, der Flow. Es rief jemand mit roter Mütze und Trillerpfeife: wieso geht es denn da nicht weiter? Die Blutbahnen muszten alles transportieren, haben Verbindung zu der anderen Bahn mit den Stichstrecken.
Auf der groszen Stadtparkwiese standen sie in weichfallenden Gewändern, in Vogelflug-ähnlichen Formationen, bewegten sich nicht fort, machten mit den ungefiederten Schwingen aus der Luft etwas Flüssiges, das durchschwommen werden muszte. An manch einem Morgen kam es zur Kollision mit Partyvolk, das Flaschen und Dosen in wenig anmutigen Bewegungen über die Wiese warf.
Annika war nicht Team Bewegungsmeditation und war nicht Team berauschende Substanzen, legal oder nicht, und sie kam vielleicht nur zufällig des Wegs, vielleicht hatte sie einen frühen Arzttermin und nahm die Abkürzung durch den Park.
Aber jetzt war sie im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung in einem Rehazentrum. Die Bilitation, die doch eingefügt worden war, um den linden und Lust-versprechenden Begriff der KUR vergessen zu machen, hatte man eingespart.
Die Frauen und wenigen Männer waren wieder unter sich und bei sich. Die Hände legten sich ein Dreieck bildend auf den unteren Bauchbereich. Augen schlossen sich. Hände, die Speck faszten wie eine Balkonbrüstung eine Zuschauermenge.
Hände, die die Beine innen und dann auszen abklopften, entspannte Gesichter. Hände, die etwas aus dem Boden zu ziehen schienen. Das war die Energie, Schie genannt.
Auch Annika folgte den Anweisungen der Therapeutin. Ihrer tiefen, etwas schartigen Stimme konnte sie gut zuhören. Ein Gong, der durch die Körperarbeits-Räume erklang, läutete auch diesen Kurs ein, dasz es sich nun um die Einführung in Schie-Gong handelte, das war ein echtes Goody.
Da stand es ja: MERIDIAN. Über einem der vielen Netzkarten, die oben in einer Rolle steckten. Meridiane. Im Traum trieben drei Netze durch die Luft, Geisternetzen im Ozean ähnlich. Nur im Traum waren sie real, Linien, geworfen über den Himmel, über die Erde, ein halber Längenkreis, Mittag war in einer Linie. Und hier im Raum liefen wieder andere Linien innerhalb der Umrisse eines männlichen Körpers. Es schwamm direkt hinter ihr, dies Netz, wollte es sie fangen oder sichern? Was spürst Du? Es kann sein, dasz Dir sehr warm wird, dasz sich der Körper schwer anfühlt.
Wieder die Hand-Bauch-Bedeckung. Und Ausstreichen. Ein Kraftzentrum. Annikas Kraftzentrum war von mittlerer Grösze. Ein Bauch war etwas wie ein Kapital, vorgetane Arbeit, ein Kalorienspeicher, schätzenswert.
Das Schie flieszt durch über 600 Kanäle, die nennen wir Meridiane.
Wieder kam er zu spät, der Kugelmann. Schon vor der Tür sein schnaubender Atem, das harte Aufreten, zwei Kugeln, eine Bauchkugel und eine glänzende Kopfkugel waren an einer Stange zusammengefügt, gleich würde er bei jeder Bewegung, die wenig weich und wenig flieszend war, ein Ächzen von sich geben.
Viele Tausend Jahre alte Technik, Reich der Mitte, wie überaus passend. Diese leichten Leibesübungen hatten das Riesenreich ertüchtigt, überall seine Finger drinzuhaben, auf jedem Kontinent. Und wohl alle hier im Raum trugen Kleidung made in Scheina. Wenn’s geht, jetzt bitte alle mit dem LINKEN Arm das RECHTE Bein abklopfen, so wecken wir das Schie.
Annika korrigierte die Bewegung.
Unter den Tonmurmeln, die anderntags auf dem Schlaf-Feld lagen, standen aufrecht ein paar Tausend Tonkrieger, die Eskorte eines schinesischen Kaisers, der vor über 2.000 Jahren starb. Arbeiter und Teile des Hofstaates waren so betrübt, dasz sie sich lebend einmauern lieszen. Der angewinkelte rechte Unterarm einiger Krieger greift ins Leere oder ins Schie, in die Lebens-Energie.
Die Tafel mit dem Meridian-Netz war in dem Mittwochs-Raum nicht gut sichtbar, bunte Gymnastikbälle lagerten davor. Doch die Regelmäszigkeit der Linien trat hervor, das feine Gespinst teilte den unregelmäszigen Körper, der meist weder aus Kugeln noch aus Kuben zusammengesetzt war, in gleich grosze Scheiben, die parallelen Linien setzten sich in der Nacht zum Donnerstag in Schienensträngen und Bundesautobahnen fort. Möglich, dasz Annika in der nächsten Woche weitere Blockaden überwunden haben wird, in eine neue Dimension vorstoszen – oder besser dort sanft landen wird – und aus den Meridianen ihres teilweise kugeligen Körpers die Meridiane der Erdkugel geworden sind.
Die Konzeption war ebenfalls ein paar Tausend Jahre alt – ein alter Grieche, ein Sterngucker und Mathematiker dachte sich das Weltkugelraster aus. Mit Sonnenstand und Kompasz entlang der Breitengrade segeln. Doch wie die Längengrade wissen? Die Londoner Sternwarte setze die Null, Reich der Mitte zwei. Aber wie ging es weiter? Annika sah Tausende Schiffe zerschellen und hörte die Schreie der ertrinkenden Seeleute.
Hier ging es ums Innehalten und gleichzeitig um Flusz und Bewegung. Was aber, wenn sie, Annika, dadurch zu einem Blockade-Element für andere, hinter ihr Stehende, Gehende, Laufende wurde?
In leichter Hockstellung ziehen die Arme die Energie nach oben – die Brust öffnen und weitherzig sein. Die Hände öffnen sich vor der Brust und schieben die Luft nach auszen.
Achtzehn Übungen gab es beim Schiegong. Die Nummer sechs mochten ihre Schultern gern, Name: über den stillen See rudern, ohne Anstrengung. Mit dem Einatmen die Hände anheben, wichtig ist das Kreisen der Händen. Und jetzt die Hände sanft zur Faust formen.
Das Abklopfen zur Weckung des Schies als Partnerübung liesz Annika kurz einfrieren, was, wenn sie dem neben ihr stehenden, schwitzenden und schnaufenden Kugelmann zugeteilt werden würde? Wenn sie auch nur mit mittlerer Kraft mit den Handkanten auf Schultern und Rucken klopfen würde, müszte sich unweigerlich eine der Kugeln lösen. Sie würde durch die freie Raummitte rollen und erst vor dem Fenster zur Ruhe kommen, handelte es sich um den Kopf, könnten die Augen auf den moosigen Rasen schauen, wie schön das wäre. Nein, diesmal sollte sie die sehr kleine und sehr zarte Blondhaarige mit dem gesenkten Blick berühren und das muszte sehr zart geschehen.
An den Wänden nur männliche und athletische Körper, im Raum davor weibliche Körper und zwei männlich zu lesende, die erheblich abwichen von den vorgezeichneten Silhouetten. Buchstaben-Text: „Der Mensch“. Mit den Ansagen der Therapeutin waren wahrscheinlich alle im Raum gemeint: „Jeder macht, wie er kann.“
Bilder sollten sie sich machen, ein Bild für jede Bewegung. Es zischte, als Annika ein blutiges Steak in die Pfanne warf, woraufhin der Mann, mit der roten Mütze in seine rote Trillerpfeife blies. Beim Ausatmen knisterten die leeren Bierdosen des jungen Feiervolks auf die Buchenstämme im Stadtpark.
Und wieder: „Jeder macht, wie er kann.“
War Annika am Ende deshalb hier? Nicht, weil sie nicht machte oder gar nicht konnte. Sondern, weil sie etwas in sich gezüchtet hatte, dieses-jenes-welches das Schie sofort absorbierte. Beim Betrachten der Bilder machte sie sich die falschen Bilder. Und die Wörter nahm sie beim Wort. Die nahmen sie nicht beim Wort, die schickten sie ins Niemandsland. Vielleicht war es ein Anti-Schie, das sie genährt hatte und das sie nicht nährte.
„Jeder in seinem Rhythmus.“
Aus einer Schie-Gong-Anleitung erfuhr sie, dasz Störungen des Energieflusses durch eine Disharmonie zwischen Mikrokosmos (z.B. dem Menschen) und dem Makrokosmos (seiner Umwelt) entstehen. Es käme zu einem Ungleichgewicht zwischen der Lebensenergie Schie und störenden Energien von Auszen – genannt wurde Wind, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit aber auch auszer Kontrolle geratene Emotionen und allgemeine Überlastung.
Mit dem allg. Schie war sicher alles in Ordnung, mikro- und makrokosmisch. Aber ihr kleines und starkes Anti-Schie, ihr Unbehagen an Wand-Mannsbildern und sprachliche Fehlbildungen geriet in Disharmonie und kabbelte sich mit Grosz-Schie. Mit jedem Klopfen auf die Extremitäten kribbelte es denn auch.
„Es ist gut, wenn Sie Wärme spüren. Ja, auch wenn es kribbelt. Das ist bei jedem anders.“
Bald schon konnte Annika das Ringen ihrer beiden Schies als befreiend und bereichernd erleben. Wärme entstand und durchflosz ihren Körper und sie konnte die Frage mit ja beantworten.
Ja, sie spürte es. Sie würde jetzt nur noch die Rolltafeln an der Wand aktualisieren müssen.