Vaters Erziehung zur Schönheit, der Gott des Sohns, oder: von der Glückseligkeitslehre zur Seelenwollust
(Erste Parzelle)
Einzig diese Gärten existieren nicht einzeln, sie blühen als Reihen, als Nummern, zusammengefaszt in Vereinen.
Klein- oder Schrebergärten. Eine Versammlung von Parzellen, die eine voll Koniferen, eine mit Rasen und Grill, eine mit Nippes, dort hinten tatsächlich Stangenbohnen, Hochbeete und Himbeersträucher.
Der Staat in Gestalt der Stadt gewährt und entzieht, in Hamburg blüht Laubenland seit gut hundert Jahren, auf dasz geackert, geerntet und ernährt werde. Und erzogen. Menschengärten. Kindergärten. Der Arzt Sieveking nannte sie 1907 „Familiengärten“.
„… nicht ‚Arbeiter-Gärten’ oder ‚Schreber-Gärten’. Denn nicht den Arbeitern allein sind sie zugedacht, sondern gerade auch den durch ihren Beruf der körperlichen Arbeit mehr als wünschenswert entzogenen Bureau- und Kontorangestellten unserer Handelsstadt. Und dann liegt in dem Namen ‚Familiengärten’ schon ein ganz besonderes Programm. … wir wollen hier keine Krankenkolonien einrichten, vielmehr sollen als Gesunde da vor allem Eltern und Kinder vereint spielen, arbeiten, sich bewegen. So wird es eine Pflegestätte der Familie werden, wo die vielseitigen (…) Ablenkungen der Großstadt ausgeschaltet sind. Der Mann fühlt sich wieder fester mit den Seinen vereint und werde vom Wirtshaus ferngehalten, die Frau lerne Sparsamkeit und richtige Verwendung der Naturprodukte im selbstversorgten Haushalt, die junge Welt finde in gesunder Bewegung Erfrischung für Körper und Geist, sie alle ziehe die Freude am selbst Erschaffenen, am eigenen Besitz, am Walten der Natur (…) empor aus des Alltagslebens Einförmigkeit zu höheren Gedanken, zu edlerem Streben.“
Von oben geguckt ist der kleine Garten also Chefsache, Vater-Mutter-Familienbildungsort, die Parzelle ist Pflanzstätte idealischer Früchte, Transzendieren durch Vertikutieren, man lache nicht. Die Schreberin und der Schreber verteidigen ihre Schollen nicht nur mit Klauen und Spaten gegen die expansionslüsterne Stadt, sie pflegen in ihren Herzen auch ein Erziehungs- oder Sendebewusztsein.
(Zweite Parzelle)
Garten war immer Metapherngrund, die Kinder müssen Wurzeln, Blüten oder Kraut sein, im Kindergarten-Wort sprieszt Sehnsucht nach Sonne und Glück und Sehnsucht nach Zucht.
„Was nützt einer Pflanze die belebende Kraft der Sonne, der fruchtbarste Regen, die gedeihlichste Pflege, wenn sie verdorrte oder verfaulte Wurzeln hat, und diese nicht zunächst entfernt, und, dafern möglich, in lebenskräftige umgebildet werden?“
Wurzel, Baum und Keim bilden die Gesamtheit menschlichen Lebens ab:
„Der Körper ist die Wurzel der irdisch-menschlichen Existenz und des geistigen Lebensbaumes, die immer weitere Entwickelung des letzteren das wahre Ziel des menschlichen Lebens. Roh und unentwickelt tritt das Kind aus der Hand der Natur in die Welt ein, aber reich begabt mit Keimen allseitiger Entwickelung (…) Diese Keime sind sowohl auf körperlicher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Vervollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts zur Fehlerhaftigkeit und Vernichtung führen.“
Die Arbeit von Gärtner und Erzieher strebt zur Vollkommenheit und verlangt Entscheidungsfreude im Groszen und häufige Korrektionsarbeiten an Stämmen und Stängeln wie auch an biegsamen kindlichen Körpern. Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808 – 1861, Leipzig) stellt in nämlichem Werk über die Erziehung an Leib und Seele seine von der linken Pädagogik der 1970er Jahre aufgespieszten Geradehalter vor. Eiserne Schienchen für O- und X-Beine, Riemchen, die den schlafenden Kinderkörper auf dem Rücken attachieren, Geradehalter für den Oberkörper. Keine Schläge, kein Einsperren. Gymnastik. Lebensreform.
Der Kinderarzt Schreber hat nie einen Schrebergarten gesehen. Nach ihm und nach dessen Tod benannte der Leipziger Pädagoge Ernst Innocenz Hauschild (1808 – 1866) Spiel- und Lehrgärten für Kinder „Schrebergärten“. Mit Zaun. Ohne Laube. Ohne Kunst.
(Dritte Parzelle)
In der dritten Parzelle, sie liegt oberhalb des groszen Flusses, sind die Wurzeln zu Nervenbahnen geworden, die Bewohner sind nur „flüchtig hingemachte Menschen“. Durch die Nerven kommuniziert jeder Mensch mit Gott. Das Grundstück ist das Reich von Daniel Paul Schreber, Sohn des Vorgenannten. Die Parzellen-Grenzen verrückte Schreber erstmals, als er eines Morgens von der Vorstellung erfüllt war, „daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege.“ Bald darauf tritt er sein neues Amt als Oberlandesgerichtsrat in Dresden an, wo ihn eine „ungemein große Arbeitslast“ erwartet. Seine Nerven sind dem nicht gewachsen. Schreber weisz, dasz es auszer der gewöhnlichen menschlichen Sprache noch eine Art Nervensprache gibt, „deren sich der gesunde Mensch in der Regel nicht bewuszt wird.“ Zu den schönsten Blüten in Schrebers Garten gehören die Wörter wie Denkzwang, Gedankenfälschungen, Seelenwollust, Wollustnerven, Gottesnerven, weltordnungsmäßig.
Daniel Paul Schreber ist ein Hiob und ein Prophet. Als einer der wenigen Nervenkranken zeichnet er seine Krankheit akribisch auf. Sigmund Freud nahm die „Denkwürdigkeiten“ und legte sie auf die Couch. Erwartungsgemäsz ödipalisierte er den Kranken, setzte Gott mit Vater Schreber gleich und ordnete die beschriebene imaginierte Geschlechtsumwandlung dem Wunsch unter, mit dem Schreber-Vater zu verkehren.
Zeit, in den Garten zu gehen. Es ist ein Garten mit Wortblumen und fehlenden Zäunen – und es schwindelt der Leserin, dasz es der Garten der nachmaligen Euthanasieanstalt Sonnenstein in Pirna an der Elbe ist, in dem Schreber sitzt, Gewöhnliches ungewöhnlich beschreibend.
„Ich ging am Vormittag in den Garten, wo ich jetzt in der Regel nur eine halbe bis dreiviertel Stunde verweile, da der Aufenthalt im Garten – auszer soweit ich Gelegenheit zu lauter Unterhaltung habe, woran es bei der fast nur aus Verrückten bestehenden Umgebung nahezu gänzlich mangelt – sich meist zu einem beinahe unausgesetzten Brüllen gestaltet. Die vorhergehende Nacht war sehr mangelhaft gewesen, sodaß ich stark ermüdet war. Ich setzte mich demzufolge auf eine Bank, wo ich – wie jetzt in beschäftigungslosen Zeiten in der Regel – zur Betäubung der eingehenden Stimmen anhaltend (in der Nervensprache) 1, 2, 3, 4, zählte. Die Augen wurden mir durch Wunder geschlossen, und es trat darauf nach kurzer Zeit Schlafanwandlung ein. Nunmehr erschien – und dieser Vorgang wiederholte sich in der kurzen, etwa halbstündigen Dauer des Gartenaufenthaltes nach inzwischen erfolgtem Aufstehen auf verschiedenen Bänken dreimal hintereinander … Ich glaube behaupten zu dürfen, dasz es die einzigen Wespen waren, die an dem betreffenden Tage überhaupt erschienen … Die Wespen waren diesmal, wie ich aus für mich unzweifelhaften Gründen, die hier darzulegen zu weit führen würden, anzunehmen habe, ein Wunder des oberen Gottes (Ormuzd); noch im vorigen Jahre wurden dieselben von dem niederen Gotte (Ariman) gewundert; die Wunder des oberen Gottes hatten damals einen noch erheblich feindseligeren Charakter (Aufhetzung von Verrückten u.s.w.).“