Alltag

Eine Geschichte über LÄRM

Drei Männer mit Laubbläsern

Es geschah am 30. April

Rosa schaltete das Radio ein. Stellen wir sie uns ratlos, rundlich und rotgesichtig vor. Robert hatte sie „meine Regierung“ genannt. Um drei Uhr gab es immer die Sondermeldungen und für den heutigen 30. September rechnete Rosa mit wiederholender Zusammenfassung der Ereignisse seit dem 30. April. Seit dem Gehörsturz konnte sie sich noch weniger merken.

Rosa also schaltete ein und schalt sich, nicht den Flötenaufsatz auf den Teekessel gesetzt zu haben. Zuviel Wasser war verdampft. Zuviel Ruhe.

„Genau ein halbes Jahr ist es jetzt her, dasz eine neue und vorher unvorstellbare Art von Terror unser Land im Griff hat. Auf immer wird der 30. April, vorher wohl nur wenigen als der Tag des Lärms bekannt, eingebrannt sein in das Gedächtnis der Menschen. Genau ein halbes Jahr ist es her, dasz gewissenlose Subjekte, die für sich in Anspruch nehmen, das Gute zu wollen, 2.700 Menschen aus unserer Mitte raubten.

Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, Menschen aller Regionen. Manche, die an Schalthebeln der Macht saszen, andere wiederum, die in einem verantwortungsvollen Beruf standen, wieder andere, die man früher ’die Stillen im Lande’ genannt hätte. Unser aller Leben hat sich radikal verändert. Zum Beispiel das von … „

Rosa sasz da, die Hände umklammerten den Becher mit dem Hopfentee und fühlte sich gemeint. Und es war gar nicht so sehr, die Abwesenheit von Robert, die alles verändert hatte. Umgestürzt, mitgerissen, ein Strudel aus rückwärts gesprochenen Worten, aus Glasbruch, aus erbrochenem Schokopudding. Um sie herum eierte der Strudel und ging mindestens bis zum Rittersporn im Vorgarten. Rosa hatte sich aus der aktuellen Sendung ausgeschaltet und suchte nach Schneisen ins Gestern, Schneisen, wie sie Pioniere oder Propheten schlagen. Sie dachte Krächzen, Krakeelen, Krähen. Sie dachte Krawall und Crash und Clash. Ihre Lippen formten Ro-Ra-Re.

Es war so ruhig drauszen, seit ihr Robert nicht mehr Laub blies, nicht mehr den Rasen befuhr, nicht mehr die Hecken stutzte.

Zwei Männer mit Laubbläser in Schritthöhe

“ … eine von über eintausend Frauen, deren Partner am 30. April verschwanden. Spurlos verschwanden. Wenngleich wir wissen, dasz sie von einer Organisation entführt wurden. Es ist öfter darauf hingewiesen worden, dasz die meisten Opfer Männer sind, in einer bislang nicht von der selbst-ernannten Gehörschutz-Guerilla/ GSG neu autorisierten Erklärung heiszt es: „Lärm ist kein Kollateralschaden oder eine Zivilisationskrankheit, Lärm ist das Lebenselixier des kranken Mannes und die Krankheit des Mannes ist Mann-Sein. Lärm ist dem Manne Leben, nur geräuschvoll erfährt er sich und terrorisiert alles auszer sich. Neben dem häszlichen Stimmorgan erfand er dazu Geräusch-Geräte, die seine verfehlte Existenz hörbar werden lassen. Wie einen Riesen-Penis hält der Wichtmann den Laubbläser vor sein Geschlecht, schraubt er sich ein Auspuff-Rohr ans Gesäsz, Emmission ist ihm Ejakulat, das Unheil der Umwelt sein Heil.

Nur das kranke männliche Hirn konnte Lärmdesign ersinnen, nur mit einem Urknall kann es sich den Beginn der Schöpfung ausmalen … „

Liebe Hörerinnen und Hörer, das soll uns genügen als Auszug aus einem Pamphlet, das wir Ihnen nicht vorenthalten wollen, da die Täter bekanntlich fast sämtliche in Deutschland tätigen Sounddesigner verschleppt haben. Unter ihnen auch einige Frauen. Wir haben zu dieser Problematik Deutschlands bekannteste Feministin befragt …“

Rosa schaltete ab. Sie machte sich wieder daran, Robert zu schreiben. Jeden Tag zwei Zeilen, niemals war Schreiben nötig gewesen, über vierzig Jahre nicht, sie zweifelte an der Aushändigung der Schriftstücke und daran, dasz die Entführer die Männer am Leben gelassen hatten. Eigentlich am meisten an letzterem.

Im Fernsehstudio

Im Fernsehstudio versammelten sich drei Männer in grünen Latzhosen zur letzten Schicht, dem letzten Schliff am Studio Auris. Mann 1 zu Mann 2: „Das war doch jedenfalls mal ein Auftrag! Konnten wir doch mal zeigen, was wir können, nich’?“ Mann 2: „Hör blosz uff!“ Mann 3: „Da gibt’s nix Positives, überhaupt gar nichts.“

Die Männer modellierten mit Silikon am Portal, ein runder Bogen in Rosa. Mann 1: „Hat man vorher nie so genau hingesehen. Wessen Ohrwatschel isses denn eigentlich?“ Mann 2: „Haste das gar nicht mitbekommen? Da gab’s doch extra ein Casting für.“ Mann 3: „Aber denne ham sie doch mehr auf innere Werte geachtet.“ Die drei blicken versonnen in den äuszeren Gehörgang.

Mann 1, sich an den Kopf schlagend: „Achja, weesz ick doch: Es is’ das Ohr von sonner Klavierspielerin …“ Mann 2: „Komponistin.“ Mann 3: „Also Musik ist das nicht, was die macht – aber sehr nettes Öhrchen.“ Alle nicken beifällig, Mann 3 poliert das Ohrläppchen, das nachgibt wie ein Kissen.

Im Gehörgang hatten die drei in den vergangenen drei Wochen oft Brotzeit gemacht. Die ängstlichen und wahrscheinlich antreibend gemeinten Blicke der Kollegen aus Technik, Verwaltung und Sendeleitung an sich abprallen lassend. Plötzlich aus dem Vollen schöpfen! Und das erste Mal nicht für eine Show, sondern aus aktuellem Anlasz, ja aus Staatsinteresse. Ein Inspektionsgang der drei Männer durch das Studio Auris liesz sie leicht anschwellen im Bewusztsein der eigenen Bedeutung. Mann 1: „Von unsrer Arbeit hängt viel ab!“ Mann 2: „Leben hängen dran!“ Mann 3: „Hoffentlich trifft unser Ohr auf offene Augen bei den Terroristen.“ Daraufhin Kopfschütteln bei Mann 1 und 2.

Wer hatte je zuvor einen Gehörgang betreten, wer hatte gestanden vor Tympanon, Cavitas und Ossicula tympani, vor Tuba auditiva und Cochlea.

Heute Abend würde hier ein hoch in Kurs und Ansehen stehender Entertainer vom Hören sprechen. Und er würde es so tun, als sei es ihm ein inneres Bedürfnis, dies Aufklärertum, diese Bildungsbeglückung. Dasz damit einer Forderung der Entführer entsprochen wurde, muszte verschwiegen werden 1. aus Staatsräson, 2. aus pädagogischen Gründen (niemand hätte sonst hingeschaut) und 3. um den populären und einfluszreichen Entertainer nicht dem Vorwurf auszusetzen, er hege geheime und ungeheuerliche Sympathien für die Terroristen.

Mann 1: „Ob sie bis heute Abend wieder wen hinrichten? Oder wissen sie, wieweit wir sind?“ Mann 2 und 3 wechselten Blicke, Mann 1: „Jaja, man kann niemandem trauen.“ Woraufhin sie sich an die Kontrolle des Ganges machten, der muszte einiges aushalten. In diesem Augenblick kam der Entertainer und Quizmaster hereingeweht, hereingeflattert. Er galt als sympathisch und volkstümlich, fixierte jedoch immer einen 20 cm rechts vom Gegenüber liegenden Punkt: „Na, alles Paletti, Ihr Helden? Hält das hier was aus?“ Alle vier Männer hüpften zu ihrer Zufriedenheit. Entertainer, monologisch, um sich einen Raum schaffend: „Die Luft schwingt, eine Druckwelle gelangt zur Ohrmuschel, wird weitergeleitet. Hier ist das, wie machen wir das, toller Raum, aber passiert genug?“ Er ging auf und ab, dann ganz ab, sein Leinenjacket paszte zum Hörgang.

Zwei Straszen weiter, im siebten Polizeikommissariat schaltete sich das Radio selbsttätig ein. Beleidigtes Schweigen der Anwesenden aller Dienstränge. Diese Groszgeiselnahme, kurz G8, degradierte sie alle. Ostentativ verliesz Oberwachtmeister Grützmacher das Bureau. Innerlich hatte er längst gekündigt, trug eine Maske zur Wache und eine Fassade zu den Bürgerinnen und Bürgern. Alles hatte ohne die Ausrufung einer Terrorwarnstufe begonnen. Alle waren kurz vorher zu einem internen Terrorabwehr-Lehrgang gewesen. Es gab Pläne, die auch dem kleinsten Streifenhörnchen die Vision von der Rationalität des Innenministeriums und all seiner Gliederungen und Stäbe und der Sinnhaftigkeit des Groszen Ganzen zu geben vermochten. Klarheit, Effektivität, die Demokratie ist wehrhaft und dennoch anständig. Sicherheit ist ein klarer Gebirgssee. Viele hatten zum ersten Mal an Visualisierungsübungen teilgenommen.

Und dann die Überlastung durch die fehlenden Mitarbeiter, sämtlich Harley-Fahrer. Und dann die Tatsache, dasz es so gut wie keine normale Kriminalität mehr gab. G8 rauf und runter, vorne und hinten. Vielleicht das schlimmste – kurz wandte er seine Aufmerksamkeit der Nachrichtenstimme zu, doch nur das Immer-Gleiche, der Staat liesze sich nicht erpressen liesz jemand von oben ausrichten – das schlimmste war wohl, dasz die Polizei über die gleichen Informationen verfügt wie die Öffentlichkeit. Die Bergstedt rief einen Einsatz aus: Paragraph 117 (0wG), Ruhestörung, Ghetto Rabenstrasze, putzig, wie sie sich da plötzlich alle drum rissen. Nur er, Grützmacher nicht, dann schon lieber Wagen putzen.

Zwei Straszen weiter nördlich führt die Presseperson der Gehörschutz-Guerilla die Content-Controlle durch. Eine Person eines sicherheitshalber nicht kommunizierten, vielleicht auch nicht festgelegten Geschlechtes kontrolliert, ob die zentralen Inhalte der Gruppe medial repräsentiert sind. Für heute stand die Zahl 2.700 auf der Agenda. Gescannt, gesurft, geschnitten und gewälzt, geblättert und gehört wurde mit dem Ziel, herauszufinden, ob sich die Zahl der Entführungsopfer wiederfand und ob der Kontext korrekt war.

2.700 Lärmtote jedes Jahr

Die Presseperson und die übrigen MitarbeiterInnen hatten ein freundliches helles Büro mit Blick auf eine Parkanlage. Eine bekannte Werbeagentur hatte hier ihren Sitz. Im Keller und in der Tiefgarage, die MitarbeiterInnen waren schon vorher zu Fusz oder mit dem Fahrrad gekommen, saszen die Entführungsopfer, etwa die Hälfte von ihnen war noch am Leben. (Wie sie hierhin verbracht worden waren, immerhin eine logistische Meisterleistung, ohne dasz jemand etwas gesehen oder gesehen haben wollte, wird sich wohl niemals ganz klären lassen.)

Die Presseperson vereinigte Hartnäckigkeit und Accuratesse mit Phantasie und einem Gespür für ungewöhnliche Lösungen. Es war ihre Idee mit dem Studio-Ohr gewesen, und sie überlegte gerade, wie 2.700 Opfer in das TV-Ohr hineingeschrieben werden könnte. Oder dahinter.

Ansonsten konnte man zufrieden sein: Zahl, Inhalt, Repräsentanz fielen auf das Schönste in eins: 2.700 Menschen starben in Deutschland jedes Jahr an Lärm. 2.700 Lärmtote, die niemand sah, von denen kaum jemand wuszte – jedenfalls nicht als eine Gruppe. Und nun wuszten es alle, denn eben diese Anzahl von Menschen fehlte von einem auf den anderen Tag. Die Gruppe hatte hierzu den weithin unbekannten Tag gegen den Lärm, den 30. April, ausgewählt. Sehr sorgfältig waren auch die Opfer ausgewählt worden. Doch das fiel in das Arbeits- und Kommunikationsgebiet eines anderen Kollegen bzw. einer anderen Kollegin.

Wie nun macht man Zahlen lebendig im Sinne von erinnerbar? Mit Geschichten, Gedanken, Gerüchte. Natürlich nicht mit Geräuschen. Was war es schwierig gewesen, die lauten Jingles in fast allen Radio-Sendern abzuschaffen! Sie hatten dafür mit der Hinrichtung von zehn Sounddesignern, tätig für Audi und Motorsägen-Hersteller, drohen müssen – und diese auch ausgeführt.

Die Opfer von Lärm, der letztlich letal ist, haben meist einen erhöhten Blutdruck. Ein weithin unterschätzter Risikofaktor. Pulsfrequenz und Blutdruck steigen, die Streszhormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet. Herzinfarkt. Seit langem bekannte, aber unterdrückte, unerwünschte Tatsachen.

Ein heulender Ton risz das Bureau aus seiner Routine. Jemand von den Volunteers öffnete das Fenster, um verstärkend zu beobachten. Hände im Rücken verrieten den positiven Verlauf der Alarm-Attacke. Aus den umliegenden Gebäuden versammelten sich erregte Menschen. Sie riefen: „Das kann doch gar nicht angehen!“, „Unglaublich, das in der heutigen Zeit!“, „Seit drei Monaten sind Alarmanlagen verboten!“, „Ich werte das als Anschlag auf unser aller Leben!“, „Nicht auszudenken, wenn…“ der da schlosz der/die Volunteer das Fenster, als er/sie sah, dasz eiligen Schrittes der Autobesitzer nahte, sich wegduckend, als wiche er Schlägen aus.

Pressemitteilung 98 hatte nach der Bekanntgabe der Entführung des Gebietsleiters Süddeutschland für Bosch-Autoalarmanlagen etymologische und medizinische Gewiszheit geschaffen. Den Kommunikationsstrategen war natürlich im Vorhinein klar, dasz die Geschichte von Herrn Platzeck, einem besonders korrupten und charakterlich tief stehenden Individuum, mehr Platz einnehme würde als der klare Gedanke, der da lautete Lärm kommt wortgeschichtlich von Alarm, ist ein altes Fremdwort, ist die Kurzform vom kriegerischen Imperativ All’Arme! Deutsch: Zu den Waffen! Und als Alarm wirkte der Lärm seit dem Beginn der Geschichte, seit Menschen Pflanzen sammelten, ihre Jungen aufzogen, ihre Körper bemalten. Alarm, lauf los! Neu waren die medizinischen Erkenntnisse, dasz es bereits Werte ab 60 Dezibel sind, die gesundheitsgefährdend sein können. Ein lautes Gespräch ist 60 Dezibel laut. Ein vorbeifahrendes Auto 70. Vielbefahrene Strasze vom Rand her: 80 Dezibel. Anrainer haben einen zu hohen Streszhormonspiegel – auch, wenn sie es nicht wissen.

„Unser Verfahren ist radikal, weil es die Axt an die Wurzel legt. Wir sind es leid, abgespeist zu werden mit der Empfehlung, Hörschutz zu tragen, uns in Entspannungstechniken schulen zu lassen oder gar auf eine geographische Lösung zu vertrauen „Ziehen Sie doch weg!“ – das wird allen Ernstes Menschen geraten, die Nerven-Seelen und Körper-krank geworden sind durch Lärmterror in Haus, Garten, Stadt und Land. Stille wird erst einkehren, wenn die Verursacher unschädlich gemacht worden sind.“

Der ganzheitliche Ansatz war wichtig. Alle Office-Guerillos arbeiteten auch praktisch, d.h. sie führten Verhöre und leiteten Folterung und Hinrichtung. In einer Verhörpause, in der improvisierten Pantry im 2. UG des Parkhauses beim Latte Macciato: „Deinen hatte ich auch schon. Was fürn Würstchen …“, „Die Straszenbauingenieure sind die Erbärmlichsten. Würden die mich nicht mit derart ekelerregenden Beispielen von Selbstmitleid konfrontieren, ich täte mir selbst leid, wegen dieser Dreckarbeit.“ „Klar, wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren.“ „Und auch nicht vergessen, dasz, wer die Verhältnisse zum Tanzen bringt, sich wappnen musz gegen die Austauschbarkeit von Täter und Opfer.“ „Weiszt Du noch, der TV-Spot, die Figuren für Sonne und für Regen, das Mädchen im Badeanzug, das Männlein mit Trench und Regenschirm, geschnitzt …“ „Ja, das war in der Werbung für die Anti-Age-Creme. Bin ja ganz schön froh, dasz ich nicht so viel Auto-Motor-Sport gemacht hab.“ „Das war jedenfalls grosz, wie die ihr Brettchen verlieszen und kreisten und die Plätze tauschten.“

Zur gleichen Zeit prüften die drei Handwerker im Studio Auris den Eingang zum Mittelohr, das Trommelfell. Bei der Konstruktion die wohl gröszte Heraus-forderung. Durchlässig und doch dicht, schwingend und stabil. Freilich sollte es

Immaterielles durchlassen, nicht Gesteinsbrocken oder erwachsene Männer. Im Kleinen eine Membran, 0,1 Millimeter dick, etwa 1 Zentimeter im Durchmesser, auf Gehörgangsseite mit Haut, auf Paukenhöhlenseite mit Schleimhaut überzogen. Dem Studio-Trommelfell war nicht anzusehen, dasz es nur einen Weg hinein gab. Auf das Anbringen von Pfeilen verzichtete man bewuszt.

Das Trommelfell alias Tympanon

Dies war der Ort der Verstärkung, das Trommelfell alias Tympanon, ein eigentlich seltsamer Name, der in der Architektur nicht fürs Portal oder für eine innen gelegene Tür stand, sondern für ein geschmücktes Giebelfeld über Portal, Tür oder Fenster. Die drei Männer wuszten das nicht.

Mann 1: „Realistischerweise müszte das hier ja schwingen wie n’ Trampolin, alles!“

Mann 2: „Wir könnten da gar nicht normal stehen.“

Mann 3: „Kennt Ihr diese Irrgärten auf dem Rummelplatz, war ich neulich mit den Kids …“ Mann 1: „Wäre ja überhaupt ein eins-ah Kindertummelplatz…“ Mann 2: „Kindertunnelplatz!“ Mann 3: „Würd’ ich mir die Ohren zuhalten!“

In Rosa rumorte es. Sie verspürte ein Reiszen in den Gliedern und ein Rieseln in den Eingeweiden, als haben die inneren Ströme ihre Richtung gewechselt. Sollte sie einen Spaziergang unternehmen? Die Wände brummten böse und von den Möbeln gingen Pfeiftöne unterschiedlicher Frequenzen aus. Den Kühlschrank hatte sie abgeschaltet. Sie zog den Übergangsmantel über den Kittel und griff unwillkürlich nach dem Einkaufsbeutel, der ebenfalls an der Garderobe hing.

Die kühle Luft half ihr, den Kopf von Gedanken freizuhalten. Ihre Schritte führten sie Richtung Neubausiedlung. Inzwischen wohnte hier schon die nächste Generation. Bevor Rosa den Spielplatz sehen konnte, drückte ihr etwas auf das Brustbein, brandeten sandige Wellen an gegen ihren stabilen Leib. Nun muszte sie den Platz mit den bunten Gestängen und den schreienden kleinen Menschen aufsuchen, eine Nachbarin hatte sie gesehen und winkte sie heran. „Hallo, Frau Wolf, schön Sie zu sehen!“ Womit sie ein Kinderrucksack und ein Plastikkran beiseite schob und auf den nun freien Platz auf ihrer Bank wies. „Oder ham Sie’s eilig? Kann doch jetzt eigentlich gar nicht mehr sein, oder? Tut mir natürlich furchtbar leid mit ihrem Mann, das. Wo sie ja auch immer zusammen waren, nich’. War bei mir und meinem Dieter ja anders, immer auf Montage …“ Die Nachbarin konnte nicht weiter sprechen, weil ein gellender Schrei aus der Sandkiste erklang. In der Vermutung, ihr Enkelkind sei beteiligt, lief die Nachbarin, gefolgt von einer willenlosen Rosa, zum Ort des Geschehens. Ein Kind lag blutend im Sand, eins wischte sich an der Hose das Schaufelblatt ab, eins schob Sand über das Liegende, viele weitere liefen plärrend hinzu. Das Täterkind wurde abgeführt, das Opferkind abgeputzt und ebenfalls nach Hause verbracht. Der Geräuschpegel jedoch sank nur unerheblich. Eine Mutter tritt an die Bank der beiden Nachbarinnen, noch bevor diese das Gespräch wieder aufnehmen können: „Die Jensen-Kinder sind doch schlimme Schrei-Blagen! Haben sie eigentlich ne Ahnung, wieso von den Kinder keines …?“ Beide Frauen schauten fragend. „Na, sie wissen schon … Trau mich ja gar nicht, das zu sagen …“ Es entstand, so seltsam das an dieser Stelle klingen mag, ein böses Schweigen. Die Nachbarin setzte sich in Positur und sagte wie vom Blatt abgelesen: „Kinder? Kinder entführen? Sie sollten sich aber ordentlich schämen!“ Die Angesprochene senkte den Blick, hinzu trat eine junge Frau mit einem Babytuch mit Inhalt quer über dem wieder gewölbten Leib: „Erlauben Sie, dasz ich mich da einschalte! Ich kann da zur Klärung beitragen. Es hat doch keinen Sinn, das nur moralisch zu sehen. Auszerdem: Haben die Terroristen sonst irgendwen verschont?“ Automatisches Kopfschütteln auf der Bank. „Es gibt aber einen Grund, weshalb die kleinen Schreihälse, ich darf das ja sagen, habe selbst drei, im Dezember sind es vier, alle noch auf freiem Fusz sind.“

Die Nachbarinnen: „Und warum?“

„Es gab dazu neulich was im Hörfunkfernsehen. Da hatte nämlich jemand angefragt, ein Mann natürlich, warum bei Schreien und Schreien mit zweierlei Masz gemessen wird. Geht ja auch nicht um reine Dezibel. Und dann gab’s auf ganz ulkige Weise eine Antwort, ich glaub, per Brieftaube oder so. Es geht den Entführern, so ham sie gesagt, ums Aufrütteln. Um das Bewusztmachen und um eine Veränderung zum Guten. Und wenn sie kleine Krachmacher gekidnappt hätten, könne das nicht funktionieren. Weil bei kleinen Kindern alle nur immer an SEX denken. Und geht ja gar nicht drum.“

Kinderlärm …

Da pflichteten die beiden Älteren bei. Dann ging Rosa ihrer Wege, die andere rief ihr Enkelkind heran.

„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

„Na, weil Sie mich verschleppt haben!“

Es war der Beginn des Gesprächs zwischen Betreuungsperson 17 und einem Namenlosen Autofahrer. Die Spielregeln waren noch nicht deutlich vermittelt. Die Betreuungsperson zeigte dem an einen Rollstuhl geketteten eine Karaffe mit Wasser im Regal. Letzterer hatte seit drei Tagen nicht zu essen und zu trinken bekommen. Er schnaubte wie ein Tier. „Die Chance, dasz Sie hier lebend wieder heraus kommen, liegt bei etwa 3 Prozent. Machen Sie sich die Zeit bis dahin doch nicht unnötig schwer!“ Die Betreuungsperson schenkte sich einen Schluck ein. Sie wuszte, dasz es noch einige Zeit brauchen würde, bis er den Mann losketten könnte, bis er ihm ein Glas Wasser geben könne. Und bis er anfangen würde zu reden, wirklich zu reden. Solange würde Nummer 17 sich, altmodisch per Hand, ein paar Notizen vom letzten Gespräch machen. Eigentlich erstaunlich, wie wenig individuell diese Leute waren. Waren Sie etwa doch krank? Krank auf dieselbe Art? Eine Frage, die im Team soweit offen gelassen wurde, dasz es zog. Bildlich gesprochen. Sie seien schlieszlich keine Therapeuten-Tussis und keine Staats-Gutachter. Der Autofahrer warf sich gegen seine Ketten, der Rollstuhl drohte, umzukippen. Nummer 17 sah nicht hin. Wenn sie irgendwann verstanden hatten, dasz sie ihre Umwelt terrorisiert hatten – in diesem Fall war es hochtouriges Fahren in Tateinheit mit Aufdrehen einer Stereoanlage, die eine Messehalle hätte beschallen können – dann fielen sie zumeist in frühkindliches Verhalten zurück. 17 notierte: Täter hält sich zugute, von den Eltern, besonders vom Vater, nicht beachtet worden zu sein, bzw. erst dann, wenn er „Mist gebaut“ habe. Auch heute habe er oft den Eindruck, niemand wolle ihn hören.

Ganz langsam ging 17 zum Täter und gosz ihm die Wasser-Karaffe über den Kopf.

Im Studio Auris befingerten die drei Handwerker in der Cavitas Tympani, deutsch Paukenhöhle, die drei Gehörknöchelchen Hammer, Ambosz und Steigbügel. Sie waren vollendet schön. Die Gelenke, die sie miteinander verbanden, waren jedoch noch etwas steif und die Männer trugen Schmiere auf. Nun konnten die vom Trommelfell übertragenen Schallwellen durch die Knöchelchen verstärkt werden. Weiter ging’s dann ins Innenohr, zu dem zwei Fenster gingen, ein ovales und ein rundes.

Mann 1: „Das eigentlich Phänomale ist ja, dasz es auch in ganz klein funktioniert. Um in der echten Paukenhöhle stehen zu können, müszten wir schlieszlich zehn Millimeter grosz und dabei auch sehr schlank sein.“ Das Lachen der drei liesz die Knöchelchen in Bewegung geraten.

Mann 2, mit einem Gummihammer die Gelenke testend: „Sowas kann doch unmöglich per Zufall, so als Try-and-Error entstanden sein!“

Mann 3: „Du darfst nicht vergessen, dasz viele tausend, ne, Millionen Jahre zur Verfügung standen …“ Mann 2: „Trotzdem, da musz es doch einen Plan gegeben haben. Hatten wir doch schlieszlich auch!“ Mann 1 beschlosz den Wortwechsel: „Das macht Sinn!“

Auftritt des Showmasters, oder eigentlich Probe-Auftritt: „Groszartig habt Ihr drei das gemacht, Ihr von der Gehörstelle (lacht). Meine Damen und Herren, Zeit, von Störungen in diesem wahnsinnig schönen und wirklich genialen System zu reden. Ich habe da mal was mitgebracht, was Sie bestimmt kennen, als „User“ oder als Leidtragender (kramt in seinen ausgebeulten Sakko-Taschen) – diese schnuckeligen kleinen Tonwiedergabegeräte! Sie sind in den letzten Jahren immer kleiner geworden. Apropos: Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dasz auch die Namen immer kleiner, also immer kürzer werden? (Hält inne, verfällt in andere Tonlage) Das sollte man alles vermeiden. Worum es hier geht, Zahlen werde ich da locker einflechten, ist die Schwerhörigkeit, die schwer auf dem Vormarsch ist. Wie die Knöchelchen sich nicht mehr richtig bewegen. Dasz es nichts mit Alter zu tun hat. Die Folgen der Schwerhörigkeit, da werde ich blosz abheben auf die Einsamkeit. Okey Dokey, weiter im Gehörgang!“

So weit war Rosa noch nie gelaufen, oder nicht in diese Richtung, oder doch nicht alleine und jedenfalls nicht ohne Absicht oder Ziel. Hinter die Neubausiedlung, durch das Gewerbegebiet, vorbei an den Kleingärten durch das Brachland und bis zur Autobahn. Deshalb fiel ihr die Stille gar nicht auf. Eine grosze Stille, in die sich einlagerte, vielleicht wie die blauen Blüten auf der struppigen Wiese dort, fernes Hundegebell und nahes Vogelzwitschern. Rosa stellte sich auf die Brücke und sah bis zum Horizont. Sie sah Familien, die Spazieren gingen, sie sah Skateboardfahrer und Radfahrer. Dann bemerkte sie, dasz an vielen Stellen die Leitplanken fehlten und Leute daran gegangen waren, kleine Teile des Asphaltes abzutragen. Es war nicht zu sehen, ob es sich um private Initiative handelte oder um ein staatliches, von den Entführern angeregtes Projekt. Dann war es sicher Absicht, hier nicht mit schwerem Gerät vorzugehen. Und wenn man es nun ganz der Natur überliesze – nun, Rosa zumindest würde die Veränderung nicht mehr erleben.

Sie nahm andere Spaziergänger auf der Brücke wahr, die sie zu ihrer Verwunderung freundlich grüszten.

Rosa fand nichts Vergleichbares zu diesem Blick und hätte auch keine Wünsche an den Ort gehabt, sie dachte: So ist es gut.

Die Presseperson der Gehörschutz-Guerilla zog eine positive Bilanz betr. der Autobahn-Sperrungen. Hier hatte es unerwartet wenig Schwierigkeiten gegeben. Wie alle KollegInnen dachte sie in Bildern, und so konnte diese unerwartete Reaktion des Volkes da drauszen als Schubumkehr dargestellt werden, oder besser noch die Illustration sein des Merksatzes von „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“. Hatte die Groszbuchstaben-Presse früher blasig und schäumend von der „Freien Fahrt für freie Bürger“ geschrieben, entdeckte sie nun an eben diesem Ort wiederum Grosze Freiheiten und brachte Reportagen über Grillfeste, Sport- und andere Events auf den eroberten Freiräumen. Anwohner durften schwärmen von ihrem neuen Leben in Ruhe und Beschaulichkeit, das sie immerfort an Urlaub erinnere.

Im Studio Auris machten sich die Aura des eigentlichen Hörorgans, der Auris interna und der näher rückende Sendetermin in fieberhafter Geschäftigkeit bemerkbar. Was innerhalb des Kopfes nur erbsengrosz war, hatte hier die Ausmasze der Achterbahn einer Kleinstadt-Kirmes. Drei Bögen, die in unterschiedliche Richtungen wiesen, das ganze System war schwenk- und kippbar. In den Bogengängen flosz Wasser, das sollte die Endolymphe und die Perilymphe symbolisieren, ein Flusz der durch einen unterseeischen Wald flieszt. Der Flusz drückt gegen seine Ufer, gibt den Druck weiter, den er aus der Cavitas Tympani empfängt, aus Luft wird Wasser und der Wald schwimmt, schwingt und das Bild einer Toten in den Fluten mit wehendem Haar ist so schön wie unwahr, denn unter den Sinneshaaren, die hier baumgrosz sind, auch Sinneshaare genannt, sind Gleichgewichtszellen, die, eingebettet in einer Gallertschicht, auf Kalkbrocken wachsen. Entsprechend der Schwerkraft werden sie von den auf ihnen wachsenden Sinnes-Bäumen abgebogen.

Im Ohr-Inneren

Die Männer hatten Taucheranzüge angezogen und flogen hindurch, ohne anzustoszen. Sie beschleunigten und gelangten in die Schnecke, Cochlea. Jeder schwebte durch je eine der je zweieinhalb mal gewundenen Kanäle, sie hieszen Scala tympani, Ductus cochlearis und Scala vestibuli. Die Wände sind dünn. Das Wasser ist klar und der Wald, der hier wächst, hat 250 000 Wipfel. Jede Region ist anders, denn es weht der Wald verschieden je nach Tonhöhe, die als Welle ankommt. Die Wellen werden in eigenen Zellen umgewandelt in elektrische Signale, die über die Hörnerv-Fasern ans Gehirn weiterflieszen. Hier wurde auf Darstellung verzichtet. Die drei Taucher gaben sich Zeichen, dann waren sie auf einmal verschwunden. Hellrosa schimmerte der Wald. Von oben sah man, dasz die Bäume in Halbmondform gepflanzt waren, ungezählte Wimpern auf sandigem Grund. Die elektrischen Signale konnte man nicht sehen.

Rosa hatte sich treiben lassen und war in eine Versammlung hineingeraten, die die Straszenbahn bestieg. Die Linie überschritt mehrere Zeitzonen und Ländergrenzen. Sie stieg aus, als viele Menschen ausstiegen. Vielen, in Gewändern gehüllten Frauen folgte sie in eine schmucklose Halle, deren Waren und deren fremde Stimmen die Wände nach auszen schoben. Nie hatte Rosa zuvor Reissäcke mit Reiszverschlüssen, nie zuvor hatte sie eine ganze Strasze voll getrockneter Hülsenfrüchte gesehen. Die Schrift konnte sie lesen, aber nicht verstehen. In der Gemüse-Ecke lagen viel unwirkliche, ausgedachte Früchte, Tomaten ohne Farbe, geringelte Gurken, Stachliges, Unförmiges und Aufgetriebenes. Vor flaschengrünen Bomben mit hellgrünem Wolkenmuster blieb sie stehen, aufgeschnitten zeigten sie rotes Fleisch mit schwarzen Wirbeln. Mit Mühe konnte Rosa eine tragen, an der Kasse fragte ein mürrischer Mann sie irgendetwas, das sie nicht verstand. Die Frucht passte nicht in ihre Einkaufstasche, Rosa trug das grüne Riesenei beidarmig vor dem Bauch. Schon als sie neben den grünen Rundlingen stand, hörte sie die tiefe Ruhe, die von ihnen ausging. Ohne abzusetzen, schaffte sie es bis zum Ende der Strasze mit den vollgestopften Fenstern.

Aus einem der Geschäfte kam ihr ein mürrischer Mann entgegen und hielt ihr eine koffergrosze, blau-weisz-rot-karierte Tragetasche vor die Nase. Gemeinsam legten sie die Frucht, die weiterhin Ruhe verströmte, hinein.

Sie folgte einer Familie mit Kindern, Paketen und Tüten um die Ecke und hinein in einen rot-goldenen Raum. Sie sprachen so leise, als schämten sie sich ihrer Laute. In der Gaststätte hing ein flacher Bildschirm von der Wand, zu Rosas Freude kam kein Ton. Vielleicht war die Frucht ein Lärm-Tampon, die alles aufsaugte. Sie liesz eine Hand darauf liegen und zeigte mit der anderen auf das grünstichige Photo mit Fleischspiesz, Pommes Frites und brauner Brause.

Im Fernsehen liefen Bilder mit Menschen in Taucheranzügen, die sich nach hinten in Wasserbecken kippen lieszen. Ein Mann, den sie schon mal gesehen hatte, lief über das Wasser und leise erklang dazu das Glucksen der Friteuse. Rosa war restlos ruhig und renaturiert.

Geschrieben für PuzzlinkEvidenz 2007