Alltag, Engel

Liebe Charlotte,

Du hast es gut gemeint.

Du hast ihn bezwungen, Deinen Lebens-Berg, und Du hast uns eine Wegbeschreibung hinterlassen. Du hast den Aufstieg auf zwei Berge beschrieben, mit Figuren, mit Worten, mit markanten Gebäuden und es läszt sich in der colorierten Landschaft soviel Zeit verbringen, wie in, sagen wir, einem groszen Park, der sinnfällig angelegt wurde.

Wir stehen ganz unten vor einem mächtigen Wegweiser, ein Ausrufezeichen. Wir sehen an der Kleidung der Leute – Wanderer und Stadtmenschen, zwei Damen mit Sonnenhüten, Herren mit Zylindern, die Kleider der Damen schleifen auf dem Boden – dasz wir uns im späten 19. Jahrhundert befinden.

Charlotte, ich denke: Du siehst uns da. Du schaust von oben zu – von rechts oben. Wir lesen richtig: rechts ist gut, links ist schlecht. Das ist das Gegebene.

Wahrscheinlich könnten die Leute, zu denen wir uns gesellen, nicht sehen, wohin die beiden Wege führen. Der linke führt in die Hölle, die gleich noch zu beschreiben sein wird, der rechte in den Himmel. Palmzweig, Goldenes Schaf, Krone, Engel, die Synchronschwimmern ähneln, Gold- und Blautöne. Abkürzungen – Buchstaben mit Zahlen kombiniert – es ist wohl der Himmel.

Die Basis-Station ist der Ort der Entscheidung. Zwei Arme hat der Wegweiser, links weist er zu „Tod und Verdammnis“, rechts zu „Leben und Seligkeit“.

Ein Herr in einem schlichten Überzieher links des Wegweisers scheint ein lebender Wegweiser zu sein. Sein rechter Arm weist auf das grosze Kreuz hinter der Mauer mit dem kleinen Durchlasz.

Hier würde ich Dich, liebe Charlotte, gern fragen, ob es in Deinem Sinne war, dasz das Kreuz nunmehr leer ist. Vielleicht ist es Dir gar nicht aufgefallen: aber auf den ersten Versionen Deines groszen Andachtsbildes, die ich als Lebens-Kartographie lese, passiert der Wanderer auf der ersten Station ein groszes Kreuz mit Jesus Christus, ein Kruzifix also. Auf den späteren, den heute im Handel erhältlichen Versionen ist das Kreuz leer. Ich habe da recherchiert: das ist eine Rücksichtnahme auf die Calvinistischen Brüder und Schwestern. Sie lehnen ganz Schrift-treu christliche Bildwerke ab. In der Kirche und im weiteren Leben soll nichts ablenken vom Glauben. Kein schöner Gott, kein häszlicher, und überhaupt nichts, was die Frage nach Schönheit oder Häszlichkeit auch nur stellen könnte.

Das Kreuz ist in einen Felsen eingepflockt, auf dem steht: Petrus 2,24 und wir schlagen bei Luther nach: „Jesus, der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid Ihr heil geworden.“

Wie seltsam: erst sind wir wir, die Sprechenden, die Sündigen, die letztlich Erlösten. Und dann sind wir die Angesprochenen. Ich wüszte eigentlich gern, wie Du, Charlotte mit diesen kleinen Ungereimtheiten umgegangen bist, wie Du sie umgangen bist.

Doch wie sind wir hier her gelangt?

Rechts vom Wegweiser eine wohl mannshohe Mauer, darin ist eine Pforte, eine Pförtchen eingelassen, niedrig schmal, wer nicht kleinwüchsig oder minderjährig ist, musz sich da durchquetschen. Die offen stehende Tür scheint kein Schlosz zu haben, aber massive Beschläge.

Irgendwie fällt unsere Aufmerksamkeit nach rechts mehr als nach links. In dem Zusammenhang musz ich Dich noch nach dem Löwen fragen, ganz leise höre ich sein Brüllen.

Du, liebe Charlotte, hast ja vor genau 200 Jahren, also 1823, eingeheiratet in eine wohlhabende Stuttgarter Kaufmannsfamilie, Dein Gatte und seine Brüder betrieben das Geschäft „Johann Conrad Reihlen Kolonial- und Farbwaren, Landesprodukten-, Zigarren- und Ölhandlung“, das führende Geschäft in der Stuttgarter Marktstrasze. (Falls es Dich interessiert: DM, Tchibo und Kebab Kitchen warten dort heute auf Kundschaft.) Jetzt stell Dir vor, dasz die Menschen in Stuttgart und auch anderswo heute in riesigen Geschäften einkaufen und sich selbst bedienen müssen. Es gibt keine Leute, die beraten, einpacken, sprechen sowas.

In immer mehr solcher groszer Läden müssen sie sogar selbst die Kassen bedienen und eine Schranke läszt sie nur heraus, wenn sie einem Maschinen-Auge ihren Kassen-Bon vorzeigen.

Ach, das wollte ich jetzt eigentlich gar nicht erzählen. In allen diesen Geschäften ist die Laufrichtung gemäsz wissenschaftlichen Erkenntnissen links herum. Gegen den Uhrzeigersinn.

Pardong, ich wollte jetzt nicht die Wegeplanung im Kaufgeschäft mit Deinem kartografierten Heilsplan vergleichen. Obwohl: Vergleichen geht ja, genau das machst Du ja auch.

Kein Preisschild steht da, sondern Johannes 3,3 und Matthäus 7,13-14.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Im Bild die enge Pforte, und im geheiligten Wort das Thema der Geburt, bei der die Säugetiermutter ihre Jungen durch den Geburtskanal pressen musz – was für ein irriges Wort, übrigens. Dies von Neuem-Geboren-Werden mag nun allerdings mit anderen Dingen zugehen.

Das wichtigere Wort, das, was sich auf unseren Weg bezieht, stammt aus der Bergpredigt. Ich denke, das war die Stelle, wo Du Deine Wanderstiefel schnürtest. Ich zitiere:

„Geht ein durch die enge Pforte! Denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der ins Verderben führt; und viele sind es, die da hineingehen. Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden.“

Liebe Charlotte,

bevor ich da loslaufe, vertrauen tue ich Dir ja, möchte ich aber doch eigentlich schon wissen: ist das so gewollt, dasz nur wenige den Weg zum Leben finden? Die Pforte breiter machen … verzeih, ich nehme den Gedanken zurück. ☞ Matthäus 7, Vers 13 bis 14.

Aber wie geht der andere Weg weiter? Was verpassen wir denn hier eigentlich gerade? „Weltsinn“ verkündet die wehende Flagge über dem breiten Tor. „Wordliness“ auf der Version, die hier hängt. Es ist tatsächlich breit, das Tor zur Linken und es steht dort „Willkommen“.

Ganz links also eine grosze gastliche Stätte, im Vordergrund drauszen prosten sich Männer zu, auf dem Tisch liegen Spielkarten.

Der Prophet Jesaja (5,22) scheint auch zugegen:  „Wehe denen, die Helden sind im Weintrinken und tapfere Männer im Mischen von Rauschtrank.“

Es mahnt auch eine Mauer-Aufschrift:

„Werdet auch nicht Götzendiener wie einige von ihnen!, wie geschrieben steht: »Das Volk setzte sich nieder, zu essen und zu trinken, und sie standen auf, zu spielen.«“ 1. Korintherbrief (von Paulus) 10,7

Charlotte, Du muszt wissen, dasz ich eine Buch-Bibel daheim habe. Aber doch gerade nicht die schmale Pforte wähle, sondern in den Weiten eines weltweiten Netzes suche. Da tippt man eine Bibelstellen-Abkürzung ein und es erscheint ein Text – allerdings in mehreren Versionen, d.h. Übersetzungen.

In einer fand ich also das „Spielen“ – sie standen auf, zu spielen.

In einer das „Tanzen“ – sie standen auf, zu tanzen.

Erinnere mich bitte an den Löwen ganz oben, der ist irgendwie falsch, 1 Peter 5,8. (Ich höre ihn aber gerade gar nicht.)

Ich schlug dann in meinem Bibel-Buch, einer sog. Einheitsübersetzung nach. Das gab es zu Deiner Zeit noch nicht.

Und hier heiszt es unter 10,7 ganz generell: „Werdet nicht Götzendiener wie einige von ihnen; denn es steht in der Schrift: „Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken; dann standen sie auf, um sich zu vergnügen.““

Im gleiszenden Licht des Gasthauses ein tanzendes Paar. Noch ahnen die Beiden nicht, wohin ihr Lebensweg sie führen wird. Höchstwahr-scheinlich führen wird.

Gegenüber vom Wirtshaus, etwas höher gelegen lädt das Theater ein. Vor dem Theater lockt ein Ausschank. Von fern klingt das Brüllen eines Löwen herüber.

Ich greife vor: im oberen Drittel des „Tod und Verdammnis-Weges“, gleich hinter der Lotterie-Station, gibt es einen Durchlasz vom üblen Sandweg zum linden Grün der Seelen-Rettung. Man kann ihn aber leicht verpassen, weil dort offenbar zwei Betrunkene liegen.

Liebe Charlotte,

Du hast die erste Station links und die erste Station rechts selbst besucht und erlebt. Mit Deinem Kaufmann-Mann hast Du, schwäbische Pastoren-Tochter, einige Jahre die Annehmlichkeiten und Geselligkeiten des Lebens in der Oberschicht genossen. Details müssen wir uns hier ausmalen, über den Rand malen wir hier freilich nicht. Du warst 17 Jahre alt, Dein Gatte war 30. Dein Vater wollte, dasz Du heiratest und es war sicher klug, das dann auch zu wollen.

Rechter Hand, auf gleicher Höhe mit dem Tanz- und Vergnügungsschuppen ragt der Chor einer gotischen Kirche ins Bild. Gerade sehe ich: die Uhr über dem spitzen Bogen zeigt kurz vor 12. Ist das nicht reichlich ausgelutscht, Charlotte? (Aber vielleicht gehörtest Du ja zu den ersten, die das Bild verwendeten – um uns zur Eile anzutreiben.)

Ich lese nun, dasz es sich um Deine Kirche handelt, das ist der Chorraum der Leonardskirche. In dieser Stuttgarter Kirche hattest Du Dein „Erweckungs-erlebnis“. So nennt Ihr PietistInnen den Moment der geistlichen Erweckung, einer Art zweiter Geburt. Und immer hat mich beeindruckt, dasz Ihr das so exakt datieren könnt. Am 19. Juni 1830 während eines Gottesdienstes, es predigte Pastor Christian Adam Dann, passierte es. Ergriff Dich der Heilige Geist? Sahst Du ein Helles Licht? Erlebtest Du Erlösung?

Verzeih meine Phantasielosigkeit.

Es war jedenfalls eine Rettung für Dich. Du littest unter Depressionen, vielleicht sagtet Ihr so: düstere Wolken drückten Dich nieder, Du konntest keine Freude empfinden, sowas.

Liebe Charlotte,

Dein mittlerer Sohn Julius – drei Söhne brachtest Du von 1824 bis 1828 zur Welt und 1830 und 1833 noch zwei Töchter – starb einen grausamen Tod an einer Luftröhren-Entzündung. Wo fandest Du Trost und Beistand? Du warst 25, hattest vier Kinder an der Backe, Deine Kindheit und frühe Jugend hatte nur aus harter Arbeit bestanden, denn Du warst schon als Zwölfjährige für die Pflege Deiner kranken Mutter zuständig.

Was hatte dieses Leben mit Dir vor? Wozu gab es Dich?

Deine Gedanken-Spiralen führten Dich zu der Überzeugung, Dein erstes Eheleben voller Geselligkeiten – eventuell mit Tanz und Theater-Besuchen – habe den Tod des kleinen Julius verursacht.

Wir wollen auf dem steinigen Weg noch ein wenig weiter reflektieren über Schuld, Mut, Demut und Erlösung. Doch laben wir uns noch ein wenig an der Quell-Station links neben der Kirche.

Ein Kreuz, ein solider Fels, frisches Quellwasser, das aus dem Stein springt. Der Wanderer schöpft mit der rechten Hand das Nasz, wir können es mit-schmecken.

Hier hast Du sehr schwierige Weg-Angaben eingestreut:

„Denn eure Hände sind mit Blut befleckt und eure Finger mit Verschuldung; eure Lippen flüstern Falsches, eure Zunge spricht Bosheit. Es ist niemand, der eine gerechte Sache vorbringt, und niemand, der redlich richtet. Man vertraut auf Nichtiges und redet Trug; mit Unheil sind sie schwanger und gebären Verderben. Sie brüten Natterneier und weben Spinnweben. Isst man von ihren Eiern, so muss man sterben, zertritt man sie aber, so fährt eine Schlange heraus.“ Jesaja 59 3 oder 5 – ich kann es nicht genau lesen und erst recht nicht genau verstehen.

Mein Blick spaziert gen Himmel, ich sehe einen Regenbogen. Moment, einen Regenbogen auf der rechten Seite?

Also bei der Schrift in der Landschaft – Johannes 3,16 – frage ich mich, frage ich Dich, ob Du, versehentlich, sündig, irrig an Deinen toten Sohn gedacht hast. Da steht:

„Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“

Eine Stelle, die ich nie verstanden habe.

Klar, ich kann das in den Kontext von Opfer rücken, Tieropfer und Jesu Verstosz gegen die Gesetze der Römer. Verstehen ist etwas anderes. Glauben auch.

(Obwohl: einmal war die Sache ja noch gut gegangen: Abraham wollte gehorsam seinen Sohn Isaak töten – da bricht Gott die Versuchseinheit ab. So in der Tora, dem Alten Testament, dem Koran.)

Vielleicht sollte ich erklären, weshalb mir überhaupt Dein Andachtsbild einfiel, als wir das Thema des Teehaus-Abends ersannen – Milla, Birgit und ich.

Roads not taken. Das ultimative Wege-Entscheidungs-Bild. Dein Bild fiel mir ein, weil es mir immer Angst gemacht hat. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dasz ich es als Kind schon kannte. Ich bin nicht in einem Milieu aufgewachsen, das mit alten frommen Bildchen Kinder zurichten wollte.

Aber Der breite und der schmale Weg war immer in meinem Bildgedächtnis. Auch wenn ich das Dia selten einmal aus dem Archiv nach vorne ins Licht schleppte.

Warum erzähle ich das Dir, Charlotte?

Nicht von meiner Angst möchte ich sprechen – sondern von Deinem Mut. Mit was für einem Gott Du es da aufnimmst, einem so ernsten, miszgünstigen, einem, der generös mit Schuld und Sünde ist. Einem Gott für wenige. Da braucht es viel Mut und Demut.

„Ich bin durch und durch Sünder und gehöre mit Haut und Haaren in die Hölle.“

Das sollst Du auf Deinem Sterbebett gesagt haben. 62 Jahre bist Du alt geworden, es heiszt, Du hättest Dich von einer Erkältung, zugezogen in der Neujahrsnacht 1868, nicht mehr erholt. Mitten in der Arbeit für den Bau einer Kirche für Dein Diakonissenhaus.

Deinem Gott konntest Du nicht vertrauen, Gnade und Erbarmen kanntet Ihr beide nicht. Jedenfalls klingt das nicht nach Selbstgerechtigkeit, womit sich Christen doch gern hervortun. Ich muszte lachen, als ich las, dasz Du ob Deiner bescheidenen Kleidung oft für Dein eigenes Dienstmädchen gehalten wurdest. (Sicher hattet Ihr Hausangestellte.) Du protestantische Overperformerin – der genau das dann auch noch egal ist. Lies, was Du auf den Stein gemeiszelt hast über der Bank, auf dem der müde Wanderer ruht, setz Dich zu ihm:

„Kommt alle zu mir, die Ihr Euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde Euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf Euch … denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Math. 11, 28 bis 30, leicht gekürzt)

Du aber bist woanders, Du kannst es nicht lesen. Du muszt also, nehmen wir Dein Andachtsbild wieder für wahr, hinten links am Diakonissenhaus vorbei, unter der Regenbogen-Brücke hindurch, Du passierst einen auf den Abgrund zurasenden Zug, der an einem Sonntag doch gar nicht fahren dürfte – und vor Dir das Feuer. Verdammnis, Reinigung – was weisz denn ich.

In der Offenbarung ist die Hölle – das Wort existiert ja nicht in der polyglotten Schrift – ein feuriger Pfuhl. Eigentlich ein Ereignis, kein Ort.

Luthers Jesus spricht elf mal von der Hölle und da ist sie noch ein ORT. Ursprünglich hebr. Gehenna, ein Tal südlich von Jerusalem wird zum Bild. Heute: Wadi Er-Rababi. Wahrscheinlich wurden dort Hingerichtete posthum verbrannt. Und vorher Menschenopfer gebracht. Inspiration für „Hölle“? Später wurde das Tal zu einer Müllhalde. Und es brauchte Jahrhunderte, um die Hölle auszumalen, um die Christen am Nasenring durch Jahrhunderte voller Anstand und Arbeit zu führen.

Interessanterweise benutzt Du die einschlägigen „Höllen“-Bibelstellen NICHT.

Liebe Charlotte,

Jetzt kann ich Dich nach dem Löwen fragen. Ich sehe, Du hast ihn an die Kette gelegt. Er ist oben rechts, also auf der Guten Seite zu sehen, über ihm das Paradies, wacht er?

Warum hast Du ihn dort plaziert?

1 Peter 5,8: „Seid nüchtern und wacht, denn Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“

Und hättest Du nicht den Vers vorher, also statt 8 die 7 aufdrucken können?

Nein, hättest Du nicht. Aber ich will ihn Dir vorlesen: „Alle Eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für Euch.“

Du willst es immer ärger und krasser als Deine Tradition es hergab. Verachtet hast Du die Lauen und Lahmen, die Müden und Mittelmäszigen.

Ein Leben lang littest Du unter Migräne, Schlafstörungen. Du hattest einen angegriffenen Magen, der Dich zu strenger Diät zwang. Und aus den durchwachten Nächten machtest Du „Segensnächte“ – sie gaben Dir Zeit zum Gebet. Es war nicht genug.

„Ich bin durch und durch Sünder und gehöre mit Haut und Haaren in die Hölle.“

(Sag: Sasz ein kurz angebundener Löwe neben Deinem Lager?)

Mit „Mainstream“ konntest Du nichts anfangen. Von der Wurzel musz das Neue kommen! Du sahst das morsche Gebälk einer verrotteten Zeit und griffst nach einer Fackel, sie hinein zu werfen. Wortmächtig waren die neuen Reformatoren, die Luthers Werk zuende führen wollten. Und zum Wort kam auch die Tat: Am Ende des Weges, kurz vor dem ganz steilen Serpentinen-Anstieg sehen wir eine Diakonissen-Anstalt. Deine Gründung, gelt Charlotte? Vor einem weissen Zelt, von dem wir wissen, dasz es kein Party-Zelt ist, Matthäus 25,35.

„Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ Matthäus 25,35

Es war auch nicht genug. Lag es an Anfechtungen, littest Du darunter?

Wobei viele der linken Szenen ja wirklich verabscheuenswert sind: Da wird ein Lastesel ausgepeitscht, da wird exekutiert, sich prostituiert. Und die Leute strömen ins Leihhaus.

Es ist hier nicht der Raum, alle in die Landschaft geschriebenen Kürzel aufzulösen.

Wenden wir uns noch einem Bild zu, so orientieren wir uns doch in Stadt und Land – hinter der Apotheke, vor der Tankstelle, nach der Brücke rechts. Drei Stege hat es auf der guten rechten Seite. Sie überbrücken einen breiter werdenden Spalt, oben unter dem Regenbogen ist es bereits eine Schlucht.

Charlotte: das sind Deine Lebens-Stege. Deine Entscheidungen. Du machst Ernst. Dein Mann wollte sich trennen von Dir, mehrmals.

Liebe Charlotte,

Im Bild sollen wir nur über den ersten Steg gehen. Über den zweiten können wir gehen. Über den dritten sollten wir nur von links nach rechts gehen. Da gelangen wir zur Diakonissen-Anstalt. Auf der linken Seite Szenen von Krieg, Gewalt, Tod und Zerstörung. Eine frühere Version zeigte versklavte schwarze Menschen.

Ganz links, neben geflügelten dunklen Wesen mit Speeren ein heute geflügeltes Wort – ich kann nicht umhin, es auf Dein Leben VOR der Erweckung zu beziehen. Obwohl es der Höllen-Ober-Titel sein soll.

„…aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“ Matthäus 8,12

Da sind wir wieder – doch der Ortsname fehlt.

Liebe Charlotte, Du scheinst Dich entschieden zu haben für den Weg von unten rechts nach links oben. Enge Pforte, steile Stiege, Steg, Zelt, Diakonissen-Haus – und dann mit Haut und Haaren die Hölle. (Die Seele hast Du vor lauter Bedrängnis hier wohl vergessen.)

Hat das alles eigentlich irgendetwas mit den Wegen Deines Mannes Friedrich zu tun? Er verbot Dir bald den Kirchenbesuch und wollte Dich bald nach Deinem Erweckungserlebnis des Hauses verweisen, ins Irrenhaus oder in Dein Elternhaus – eine Kutsche war angeblich schon bestellt. Sie fuhr ohne Dich. Friedrichs Interesse galt mehr der Julirevolution in Frankreich. Wahrscheinlich alles linke Seite.

Was Du gar nicht mehr wissen kannst: es gibt Neuauflagen Deines schönen Bildes. Auf dem Mäuerchen rechts windet sich Nato-Draht. Und über dem breiten bösen Tor links reckt die Freiheits-Statue die Fackel der Freiheit. Resp.: der Verderbnis. Unter „Reich der Welt“ der Ruf der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wie findest Du das, Charlotte?

Friedrich verliesz drei Jahre später heimlich die Familie und schiffte sich allein nach den Vereinigten Staaten, nach Michigan, ein. Obwohl Du ihn gehorsam begleiten wolltest.

Hast Du es mit Beten erreicht? Dasz er zurückkehrte nach acht Monaten?

Jedenfalls kehrte er heim als ein „Bekehrter“ – in Ann Arbor begegnete ihm der schwäbische Pfarrer Friedrich Schmid. Und der erklärte ihm Deine Frömmigkeit und entzündete auch in ihm den Funken des Glaubens.

Er kehrte um. Er unterstützte Dich fortan beim Aufbau des Diakonissenhauses und der frommen Töchterschule. Es war seine Entscheidung für Dich.

Liebe Charlotte, nur die eine Frage noch: wer entscheidet eigentlich? Ich bin mir bewuszt, das ist die Frage nach dem freien Willen eines Christenmenschen.

Ist es letztlich Gott – also Paulus schreibt ja im 11. Römerbrief (Du zitierst das nicht) oder sind wir es?

Römer 11,33:

„O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege!“

Habe Dank für Deine schöne und bedenkenswerte Wegekarte!

Ich verbleibe hochachtungsvoll

Fräulein Johannsen