Engel & Todsünden

Sieben

Detail aus Hieronymus Bosch: Die sieben Todsünden mit den vier letzten Dingen (1505-1510).

Sieben

Die Sieben also war Sibylles Zahl. In diesem Sabbatjahr hart vor ihrem siebten Lebenszyklus erschlosz sich ihr die volle Weisheit, die Ordnung und Vernunft des in Form occulten Wissens immer Vorhandenen. Die alten Griechen, die noch sprachen und schwiegen anstatt aufzuschreiben, die verbanden und heilten, anstatt zu sezieren nannten es Akusmata. Das Gehör war es, das den Raum und somit die Welt schuf. Die Akusmata waren gehörte Dinge und belebten eine kürzlich und nicht ohne eigene Verantwortung entleerte Welt. Stellen wir sie uns auszerdem weisz und still vor. Die Null existierte noch nicht. (Die Inder erfanden sie erst 1000 Jahre später und nannten sie „Shunga“, die Leere.) Nichts besasz Sibylle mehr und zog los, zur siebten Stunde ihres Wachseins, um sich sieben neue Sachen zu kaufen.

Weg und Tag gliedern sich in sieben Siebtel. „Siebtel“ sann Sibylle, passierte kleine Gärten kleiner Leute, die Parzellen-Nummern waren geschieden in gerade und ungerade und vom Anschlagsbrett bis zu den Mülltonnen war der Primzahl-Gang, die vier einstelligen Primzahlen, bei Sieben schwenkte der Weg nach links. Siebtel war ein hier gezogenes Wort, es warteten das Miniatur-Bänkchen nebst Tischchen auf sie und da standen siebenfach rot bezipfelte Terrakotta-Figuren. Die sieben war die vierte und letzte Primzahl, unantastbar aber doch ein Kompositum aus zwei anderen Primzahlen und so keine Sonderrolle beanspruchend. Sibylle machte zwei grosze Schritte, hielt inne und legte fünf nach. Die Pforte, der Weg, der Rasen, das Beet, die Terrasse, die Regentonne, das Haus. Es war die Ordnungszahl schlechthin. Siebenmal mehr als Zwerge in dieser Kolonie: steinerne weisze Vögel, viele mit Halsband oder Hut und alle mit geschwollenem Leib. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben, wo ist denn der Fuchs geblieben, da zwei, da zwei, da drei, sieben also auch in Nummer sieben. Im Kleinen und Demütigen findet sich auch die kosmische Ordnung, sie ist rund und hat sieben Punkte, schwarz auf rot, Coccinella Septempunctata, ernährt sich von Blattläusen. Als sie sieben Käfer gezählt hat, geht sie weiter. Der siebente Vollmond des heutigen Jahres wird leuchten, Sibylle zählt Blütenblätter, Lebensalter, Baumwipfel und Buchstaben, um daraus Berechnungen anzustellen über Sein und Werden. Die Zahlen waren so stark und genau. Die Basis ist die Vier. Vier, das ist der Körper, eins das rechte Bein, zwei das linke Bein, drei der rechte Arm, vier der linke Arm und eins-zwei-drei ist der Aufbau von Verstand, Seele und Geist. Ergibt Sieben und Sibylle. Am Ende der aufgefädelten Parzellen ging es weiter, was aber flüchtigen Besuchern kaum bekannt gewesen sein dürfte. Über eine Anhöhe und auf einem gut ausgetretenen Schotter-Pfad zwischen den vorletzten Parzellen mit dreistelligen Nummern lief Sibylle auf eine Magerrasenebene, beherrscht vom Rauschen der Pappelallee. Auf der anderen Seite ein Gleisstrang, der in eine Fabrik mündete, in der Ferne die Silhouette der Stadt, zusammengeschoben wie für einen Stich. Ein Kuckuck ruft 21 Mal, Sibylle fingert nach ihrem Hartgeld, dividiert und möchte gerne wissen, wie der fremde Vogel zu seiner Sprache kommt. Das ist der zweite Part des Weges, und es ist ein Weg in einem Dazwischen, zwischen zweien, erstens zwischen Baum und Bahndamm, zweitens zweifellos zwischen wild und zivilisiert. Eine Brache zwischen zwei Nutzungen. Die Sieben war im Groszen und Ganzen ein Unterstand auf einer Landstrasze im Regen, ein Pfeiler mit einem Dach, darunter konnte ein Querbalken sein, muszte aber nicht. Im Kleinen war sie ein Klötzchen, das nur auf eine Art durch die eingesägte Spanholzplatte paszte und plumpste. Die Zwei ist das Duo und auch das Du, bei dem sie jedoch keineswegs verweilen wollte. Nummer drei lag jenseits des Schotterwegs und jenseits der Bahntrasse, eine dampfende, schwüle Wildnis voller kopulierender Gehäuseschnecken und Buschwerk mit Schaumtropfen an den Blattscheiden. Sie ging entlang den Andeutungen eines Weges, der unter ihr nachgab. Sieben Wege führten zu dem Einrichtungshaus am Stadtrand. Die Sieben ist planetarisch, täglich und deutete für die Alten auf kritische Tage hin. Hier war auf den ersten Blick ordnungslose Natur, die sich einen von Bundes- oder Deutscher- oder Reichsbahn benutzten Raum zurückeroberte. Sibylle schlosz dies aus einzelnen Eisenteilen und Mauerresten. Blauschwarze Fliegengeschwader lieszen sie denken, dasz hier ein idealer Ort sei für eine auszer der Reihe zu entsorgende Leiche. Prächtige Brennesseln deuteten auf hohen Stickstoffanteil im Boden. In der letzten Zeit hatte sie die besten Erfahrungen gemacht mit der Sieben, die sich als Quersumme quasi abpflücken liesz von Daten. Das Totholz hatte die Konsistenz eines Badeschwammes und in das Blätterrauschen mischte sich ein Güterzugrumpeln und ein fernes Grollen.

Siebenundsiebzig ist die Wurzel aus Fünftausendneunhundertneunundzwanzig

Rechts hinter einem hohen Zaun rollen die Portal-Kräne der Container-Umschlag-Anlage. Auf einem handtuchbreiten Stück Land war sie aus der Zivilisation gefallen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht Rüben. Viertens befindet sich Sibylle plötzlich auf einem viereckigen Stück offenen Landes, das von einem Bahndamm begrenzt wird. Mit sieben mal sieben langen Schritten ist sie oben, folgt der Trasse, wuszte vorher nicht, dasz die Bohlen nummeriert sind. Weit müszte sie laufen entlang der rostigen Schienen, um zur 5929 zu gelangen. Ihre heutige Zahl, die 77 ist die Wurzel aus 5929. Stadtauswärts flirrt die Luft um die Stellwerkszeichen und Lichtmasten. Es konnte kein Zug kommen, denn hier parkte eine Arbeitsplattform mit zahlreichen bezifferten Botschaften für sie. Die vier war die körperlichste Zahl, die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente, die Jahreszeiten natürlich auch, ihr Körper berührte ausgestreckt die vier Ecken eines Quadrates, die Winkelzahl betrug 360 Grad, das Dreieck belief sich auf 180, addiert waren es 540 Grad. Ein Heptaeder war ein unschöner Fladen, nein, es war nicht von Nutzen, die Zahlen in Flächen zu übersetzen. Fünftens hatte die Trasse sie dem Grollen entgegengeführt, es war die Autobahn und der Klang allein hätte eine zweifeln lassen an der Starrheit der Bahn. Auf der Brücke, fünftens, über dem Gebraus blieb sie stehen und zählte ihre heutige Glückszahl ab. Das Gebraus dünnte aus, alle Dinge kommen unter der Sieben zur Ruhe, auch das hatte sie gehört. Am siebten Tag hatte der alte jüdisch-christliche Gott ausgeruht, entfaltete eine Trias aus Ruhe, Gott und Heiligkeit. Für die Brücke brauchte Sibylle sieben mal drei mal zwei Minuten, das waren die Spuren. Erfrischt gelangte sie zu Part sechs, wo sie eine Feinabstimmung zwischen der unsterblichen Zahl und einer zusammengestoppelten Budensiedlung, die an Nachkriegszeiten denken liesz, herstellen muszte. Die Sechs hatte keinen Pferdefusz, neu muszte man die Dinge denken, damit sie einen neu anblicken, die Sechs war die Seelen-Zahl. Sie barg sie, sie hütete sie, sie verriet ihr Geheimnis, denn sechs hoch drei war die Formel für die Wiedergeburt. Sibylle passierte eine sozial schwer einsortierbare Kleingarten-siedlung, die sich dreist hinstellte wie ein Pferdefuhrwerk auf die Überholspur.

Alle Kleingärten haben eine Nummer

Ja, hatten diese Leute denn keine Augen im Kopf? Windmühlenbausätze auf Baumstümpfen, eine Mauerbütt, in die Tagetes gepflanzt waren, Fahnenmasten und Satellitenschüsseln, schiefe Kamine, die sich an Teerpappen-gedeckte Dächer lehnten, deren Form kein Architekturlexikon kannte. Alle Kleingärten hatten eine Nummer, diese lautete 604. Sibylle ging weiter, zu Fusz und in Gedanken: dieser lächerliche rückwärtige Flecken mit den dilettantischen Freizeitbehausungen war, ob es ihr gefiel oder nicht, ein Seelen-Reservat. Zahlen waren das Weiseste. Zahlen überdauerten alles und würden Kolonie 604 überdauern – und das wahrscheinlich schon sehr bald. Früher, in der Agentur pflegte Herr Iderhoff zu sagen: Wer nicht mit der Zeit geht, musz mit der Zeit gehen. Da die sechs nicht ihre Zahl war, muszte sie sich nicht aufhalten mit seltsamen, hexagesischen Gewächsen, sondern überquerte den sich vor ihr auftuenden Parkplatz von transatlantischen Ausmaßen, Partie sieben, das Areal des Möbelhauses. Nur wenige, sich in Eingangsnähe befindlichen Plätze waren belegt. Sie waren nicht sichtbar nummeriert, das hatte zweifellos verkaufstaktische Gründe. Eine Unterscheidbarkeit war gegeben durch sieben Garten-Inszenierungen auf sieben Kunstrasen-Abschnitten. Sieben wartende Ensembles vor Holzhausfassaden, mit Spielgeräten, mit bunten, zum Teil defekten Gartenmöbeln. Sibylle wuszte, dasz es ihr Ort war. Sie war froh, keinen Garten und keine Meublierungs- und andere Sorgen zu haben. Sicher, die Sieben korrespondierte mit Sorgen der kleineren Ausprägung. Es waren aber läszliche Sorgen gänzlich unreifer Menschen. Ein zerzauster Sonnenschirm im Coccinella-Septempunctata-Muster, eine sehr stoffliche und körperliche Vierer-Garnitur, ein Sandkasten. Der Sand war zählbar und ungezählt, sie tauchte ihre Hände hinein. Der Sand war sehr weisz und deshalb dachte Sibylle an Strand und Kind und an Streuen, Schütten und Sieben. Und das feinste aller Siebe war nicht stofflich und diente zum Herausschütteln der Primzahlen. Erst schrieb man in ein Gitter alle Zahlen hinein und strich dann die durch zwei, durch drei, durch vier und so weiter dividierbaren Zahlen heraus. Ein brauchbarer Algorithmus für Zahlen bis einhundert und genannt Sieb des Eratosthenes. Sibylle aber siebte mit den Fingern und die Kristalle rannen wie Rohstoff hindurch, da sie sich als Sieb versuchte. Fünf Streuen, sechs schütten, sie siebte. Man machte Glas daraus. Das war nun identisch und die Aufgabe des Tages: Sachen Sieben und Sieben Sachen. Anders gesagt: sie hatte das Grobe und Unnütze aussortiert. Ein Besitz war ein Mühlstein, der eine hinab risz und auf ewig trennte von Geist, Klarheit und Wahrheit und ihren irdischen Stellvertretern. Sieben Sachen schickte sie sich an, zu erwerben. Sieben Sachen konnte man allenfalls brauchen. Für Sieben Sachen brauchte es keine Liste. Sibylle sucht ein Bett, eine Decke, einen Hocker, eine Garderobe oder besser noch einen Haken, einen Tisch, eine Schüssel und siebtens eine Kiste, um alles zusammenzufassen.

Sibylle findet eine Leichtmetallbox auf Rädern, die sie bequem hinter sich herziehen kann. Zwei Erwachsene könnten in ihr Platz nehmen. Rote Flecken bedecken Sibylles Arme, den Hals und das Gesicht, als sie zum vierten Mal an den herzförmigen Badezimmerteppichen vorbeizieht. Es fehlen ihr noch sechs Sachen und es fehlt ihr jede Himmelsrichtung. Eine für Sibylle neue Erfahrung, früher bestellte sie jedwede Überflüssigkeit daheim online und in einem noch früheren Leben pflegte sie mit Lebensabschnittspartnern grosze Verkaufsflächen aufzusuchen; Einkaufs-Erlebnisse, die sie groszflächig vergessen hatte. Der Einkaufspfad scheint eine Korkenzieher- oder eine Spiralform zu haben, vielleicht aber auch eine Acht, woraufhin sie eine Atemunregelmäszigkeit erlitt, nicht wegen der Schlingenform, nicht wegen des starken Gegners, ist die niedergelegte Acht doch die Unendlichkeit, sondern, ganz zurück auf Start, weil sie nicht weisz, mit wem sie es zu tun hat. Als sie ein Fenster entdeckt, das zu einer Spindel-Nottreppe führt, stehen drei mobil-telefonierende Frauen davor. Drei mal zwei ergänzt sie, nach drauszen sopranieren und tirilieren sie, als erwarteten sie eine Befreiung. Sibylle sitzt auf ihrer Kiste, zählt bis 21 und teilt durch drei. Endlich kann sie ihren Weg fortsetzen. In weniger als 21 Minuten ist sie fertig und zieht über den Parkplatz, den Parzellenweg, die Autobahnbrücke, die Gleise, das Dickicht, die Brache und die Kolonie heim, um ihrem gesiebten Leben einen neuen Rahmen zu geben.

Leviticus 25,3

Sechs Trabanten umkreisten in gleichem Abstand ein Zentralgestirn, das zeichnete Sibylle und schnitt die oberen und die unteren Kugeln mit einer Linie ab. Einen Überblick bekommen über die Möglichkeiten der sieben Gravitationsfelder, das stellte sie sich als Aufgabe. Die körperliche Vier stand für die gelebte Sieben. Augenblicklich und erstens sasz Sibylle in der Mitte ihres Sabbatjahrs und wartete auf Segen. In ihrem Antrag an den Arbeitgeber hatte sie Levitikus 25,3 zitiert: „Sechs Jahre sollst Du Dein Feld besäen, sechs Jahre sollst Du Deinen Weinberg beschneiden und seinen Ertrag ernten. Aber im siebten Jahr soll das Land eine vollständige Sabbatruhe zur Ehre des Herrn halten: Dein Feld sollst Du nicht besäen und Deinen Weinberg sollst Du nicht beschneiden.“ Erst sieben Tage, nachdem sie das Schreiben der Hauspost überantwortet hatte, fiel ihr auf, dasz sie wuszte, wo Feld, Weinberg und Ernte war, aber komplett ignoriert hatte, wo sich der Herr befand, zu dessen Ehre die Ruhe zu geschehen habe. Einschlägigen Gerüchten in puncto der eigenen religiösen Bindung als auch der Liebe- und Götzendienerei gegenüber der Führungsetage, versuchte sie durch das Streuen von gezielten Desinformationen in Flurgesprächen zu begegnen. Dies siebte Jahr, dem übrigens im Privatleben kein verflixtes siebtes Jahr entsprach, sollte ihr eine Tür aufschlieszen.

Sie ist Sieben, sie zu erfahren, bedeutete insofern Selbsterkenntnis. Sieben Lettern, Siebenmonatskind, über ihr das Universum eine Sieben. Zum ersten Mal hatte die Sieben Sibylle gewählt, als sie in den elterlichen Glauben eingewiesen wurde. Mit sieben Jahren fieberte sie dem zweiten der sieben heiligmachenden Sakramente entgegen, im weiszen Kleid, einen weiszen Plastikkranz im Haar, weisze Plastikschuhe an den Füszen. Von ihrer Taufe hatte sie Photos gesehen – ein blutrot angelaufener Kopfballon mit aufgerissenem Mund – das zweite Sakrament der Firmung schlosz ihr das dritte, die Eucharistie auf, für Busze und Eheschlieszung könnte sie sich jederzeit frei entscheiden, Sakrament Nummer fünf und sieben, Priesterweihe und Letzte Ölung würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erleben. Die Stadt Jericho war nicht durch kriegerische Handlungen gefallen, sondern durch die Macht der Sieben: Der Herr hatte zu Josua gesprochen: „Sieben Priester sollen sieben Widderhörner vor der Lade hertragen. Am siebten Tag sollt ihr siebenmal um die Stadt herumziehen, und die Priester sollen die Hörner blasen. … das ganze Volk (soll) in lautes Kriegsgeschrei ausbrechen. Darauf wird die Mauer der Stadt in sich zusammenstürzen.“ So geschah es, und was das die Stadt einnehmende Volk mit scharfem Schwert dem Untergang weihte, war auch siebenerlei: Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.

Sieben Worte Jesu am Kreuz

Der an das Kreuz Genagelte hatte sieben Worte gesprochen. Seine Mutter erfuhr sieben Freuden und sieben Leiden. Und jeder Christenmensch sollten den sieben Tugenden nacheifern. Und auf der entgegensetzten Scala der Werte lauerten die sieben Todsünden. Das Kind Sibylle war vor allem an den Folgen interessiert, den Folgen des Guten, die ihr bläszlich vorkamen und den Folgen des Bösen, die sie seit damals nicht verstand; denn als letztes servierten ihr die Erziehungsberechtigten stets den Satz: „Das ist der ewige Tod.“

Ihr drittes Tor der Sieben, ein halbes Tor war die Sieben allemal, führte tief durch das Zahlenuniversum hindurch. Diese Passage lag im Halbdunkel und war von oben bis unten mit Formeln bekritzelt. Sibylle hatte auf der höheren Schule von ihrer Existenz erfahren, durchschritten oder gar erkundet hatte sie sie nicht. Ein Satz schien immer wieder aufzublinken, was an seinem angeblichen Autor lag: „In einem Dreieck ist das Quadrat über der Hypothenuse genauso grosz wie die Summe der Quadrate über den beiden Katheten.“ Pythagoras war der Autor und Sibylle wollte über diesen Weltweisen mehr wissen. Das war Gegenwart und Begierde, wie Nummer vier Vergangenheit und graue Pflicht gewesen war. Grau war die seriöse Gewandfarbe, während grellbunt die Farben der Unternehmens-Kommunikation waren – in Mailings, Foldern und Power Point Präsentationen. Und bei diesen war stets die US-amerikanische „Rules of Seven“ zu beachten. Sieben Punkte höchstens und ausgeführt in höchstens sieben Worten. Sibylle hatte eine Zeitlang Personalentwicklungs-Seminare gegeben und die Regel erfolgreich als ihre eigene ausgegeben. Die Inhalte hatten sich verflüchtigt, aber die Form und die Zahl sieben überdauerten diese Lebensphase. Sie blickte auf die Metallbox, deren Grund mit Lesestoff bedeckt war.

Die Zahlen hatten Sibylle die Herolde gestellt, sieben Herolde bliesen auf sieben Widderhörnern und verschwanden dann, als hätte sich der Schnürboden aufgetan. Sie wiesen schlieszlich nur hin auf die Majestäten, die Zahlen. Und sie regierten, parlierten und medialisierten. Deshalb waren sie männlich oder weiblich, Sibylle hatte es in einem Buch über den Weisen von Samos gelesen. Ihre Zahl war eine ungerade, also männliche und damit eine geistige und höherwertige als die geraden und weiblichen. Eine für sie nicht überraschende Erkenntnis, schlieszlich hatte sie sich immer zum Männlichen hingezogen gefühlt und im Männlichen stets ihren Gegenpart und ihr Gegenüber gesucht und gefunden. Am letzten Arbeitstag hatte sie mit wahrer Engelsgeduld Frau Lämmle vom Empfang den Unterschied zwischen erotischer und sexueller Attraktion zu erklären versucht. Der Kreis um den weisen Denker war exclusiv aber keineswegs exclusiv männlich. Nicht alle ihre Regeln waren für Zeitgenossen noch verständlich, unbedingt aber die Begründung für den Vegetarismus, könnte man doch bei Fleischverzehr unwissentlich den Körper, die tierische Verkörperung eines Mitmenschen verzehren. Das war alles in allem einleuchtender als ein ewiger Tod, ein Wort, dasz sie im Grunde lachen machte.

Sieben Kostbarkeiten beim Chinesen – was enthalten sie?

Sie hatte ihr Haus eingerichtet, Weinberg und Acker nicht bestellt und ging sehr beruhigt um sieben Hausblocks. Sie war sich sicher, dasz der vorher errechnete Weg sie voran bringen würde in der Erkundung von Selbst und Welt, wo die starke Sieben vermittelte. Die „Sieben Kostbarkeiten“ beim Chinesen in der Hohenzollern-Strasze hatten bis vor kurzem zum monatlichen Wochenend-Ritual gehört. Jede neue Bekanntschaft hatte sie in die „Lotusblüte“ geschleppt. Einmal hatte einer gesagt, sie sei von aufreizender Konventionalität, woraufhin sie danach bemüht gewesen war, ihn mit phantasievollem Sex zu überraschen. Er hatte aber nicht wieder angerufen. Dergleichen ereignete sich im fünften bis sechsten Lebensabschnitt. Wie wäre es, dachte Sibylle am fünften Block, wenn sie sich daran machte, die blank gebliebenen Felder ihrer gelebten Sieben-Vita auszufüllen. Oder eigentlich eher: fortführe in diesem Bemühen.

Gravitationsfeld Nummer eins enthielt die rätselreichste Mixtur um die Heilige Zahl. Sibylle lenkte ihre Schritte in die Christliche Buchhandlung am Wege, die sie nie zuvor betreten hatte.

Auf dem Tisch mit den Neuerscheinungen lagen acht Bücher, was Sibylle zunächst ärgerte, die zweimal die Sieben im Titel trug. Das groszformatige Buch ziert eine Soldatin im Rock, angetan mit Harnisch, Schwert und Helm, sie reiszt den Mund auf und darüber steht „Die Sieben Tugenden und die Sieben Todsünden“. Sibylle kannte die Person nicht, erkannte augenblicklich, dasz sie eine Personifizierung war, wog den Kunstdruckband und schleppte ihn heim. Hatte ihre arme und unterdrückte Mutter nicht früher Wochenpläne gemacht, jede Woche mit abgezählten Kalorien und einem anderen Gemüse und einer anderen Getreideart, dazwischen Obst und Wasser, ein säkulares und frauenzeitungsdiktiertes Fasten. Sie, Sibylle, würde es umgekehrt machen; sie würde sieben Wochen lang eine Bild-Speise zu sich nehmen, jede Woche eine, und es würde sie auf ideale Art sättigen und zugleich reinigen.

Ira, der Zorn. Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Ira, der Zorn. Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Die erste Woche: Ira

Das war die erste Woche: Ira. Unten läuft eine Soldatin mit Rock, Harnisch, Schwert und Helm, in dem vorn einige Zweige stecken, sie reiszt den Mund auf und hält in der Rechten eine Fackel und in der erhobenen Linken ein zweites Schwert. Die Flammen der Fackel hängen wie Locken oder Fäden einer Peitsche vor dem Wanst eines Bären, der, mit Halsband und auf vier Füszen vor der Kriegerin her läuft und dabei einer am Boden liegenden, nackten männlichen Gestalt in den Unterschenkel beiszt. Darunter eine andere nackte Figur, die versucht, mit den Händen den Kopf zu schützen, während zwischen den Beinen des Gebissenen ein loser Kopf rollt. Darüber schleppen zwei Soldaten mit vor das Gesicht gezogenen breitkrempigem Helm ein Messer heran und ziehen in die gleiche Richtung wie die ausziehende Bewaffnete. Die Klinge zerteilt fünf am Boden Liegende. Ein Mann scheint ihr entkommen zu sein, hält sich den Kopf und ist im Begriff, aufzustehen und wendet sich damit unwissentlich einem Wesen zu, halb Mensch in Kriegsrüstung, mit seinem konturlosen Schlund halb Reptil, das eine Keule mit Stacheln auf ihn niedersausen lassen wird. Es steht am rechten Bildrand. In einer gedachten Linie, kurz hinter dem Kopf der Soldatin mit Feuer und Schwert, baumelt ein Morgenstern, der Träger ist noch verborgen, denn der Tross der Ausziehenden verläszt gerade ein rundes Zelt und noch Viele scheinen heraus zu drängen, Ritter, ein Vogelmensch mit Haube, der mit einer Menschenhand die Bildrichtung zeigt oder unterstreicht, ein Kopffüssler und zwischen Heerführerin und Morgenstern, der wie eine Kinderlaterne pendelt, ein Mann, dessen Kopf in einer wagenradgroszen Scheibe steckt, garniert mit Stacheln.

Wohin sollte sie den Blick noch wenden?

Wanderte er in die linke obere Bildecke, sah sie, wie auf dem Dach des Heer-Zeltes eine Frau und ein Mann in einem Kessel gekocht wurden, sie lebten noch und hielten sich bei den Händen. Rauch stieg auf und auf dem Topfrand sasz eine zweibeinige Echse mit geöffnetem Schnabel. Der Rauch vereinigte sich weiter oben mit den Schwaden einer Feuersbrunst, Vögel und Vogelartige schienen am Himmel zu kleben, eine Stadtansicht mit Hafen und Schiffen. Aus einem Turm mit zwei Kuppeln, die eine sasz als Kugel auf der anderen drauf, hing eine zerfetzte weisze Fahne. Rechts davon und genau über der Soldatin im Rock, auf die sie allmählich alles was sie sah, bezog, in gröszter Ferne und nur eben noch zu erkennen ein Galgen, eine Treppe, ein baumelnder Körper, eine Menschen-Ansammlung. Links neben dem runden Turm ein Schiff an Land, gesetzt auf zwei stehende Fässer, von dem aus offenbar Angriffe abgewehrt wurden. Die Besatzung verbarg sich teilweise in einer Kugel, einem halbaufgerissenen Ei und war mit Armbrüsten bewaffnet, Leitern wurden angelegt, um das Schiff zu entern. Es gab etliche gröszer dargestellte Szenen auf der Zeichnung. Die gröszte befand sich in der oberen Bildmitte, über der Frau im Harnisch. Da ritt eine wahrscheinlich weibliche Gestalt auf einem offenen Fasz, die Gestalt hatte dünne Ärmchen, das eine lag umwickelt in einer Schlinge, das andere zeigte ein Fläschen und sie nahm an, entnahm dem Kontext, dasz es ein Gift enthielt. Die Gestalt hielt ein Messer mit den Zähnen fest und war gekrönt von einem weitgeschwungenen, Hut-ähnlichen Helm, aus dem ein Dornenzweig wuchs. Das Fasz zwischen den Beinen, wobei eigentlich nicht klar war, ob sie rittlings sasz, denn nur ein dürres Beinchen schaute unter dem Umhang hervor, das liegende Fasz enthielt eine Frau, die ein langes Horn, an dem ein weiszes, jedenfalls helles Tuch wie eine Standarte hing, nach links heraus blies und im Vordergrund wälzten zwei sich mit Messern bedrohende Männer auf dem Faszgrund. Sibylle zählte die runden, bergenden Formen; da war das Zelt und der Kochkessel, der Turm, die Fässer und noch ein groszes Fasz, also sechs und sie befanden sich sämtlich in der linken Bildhälfte.

Rechnete man den Helm der groszen, aufgeplusterten oder besser aufgemantelten Figur hinzu, waren es aber sieben. Neben etlichen Einzelgestalten, Liegende, Klagende, Fressende, sich dagegen Wehrende und Waffen ziehende oder zeigende, Sibylle meinte, so etwas würde „Staffagefiguren“ genannt, gab es noch eine Szene im rechten oberen und eine im linken unteren Bildrand. Rechts und zum Teil noch bedeckt vom Umhang der groszen verwun-deten Gestalt mit dem Messer zwischen den Lippen, die hintere und also entferntere Gestalt war etwa drei bis vier mal so grosz wie die mit dem Schwert in der Faust ausziehende und also galten die Gesetze der Perspektive oder des Augenmasses oder andere hier nicht, dort oben rechts also tauchte unter dem Umhang ein Baumhaus auf. Es hatte zwei Etagen: auf der oberen, in einer Astkrone mit Rindendach und Krug, Vogel und Fisch hingen im Geäst, läutete eine Frau eine Glocke, die in der Firststange hing. Auf der Erde an den offensichtlich toten Stamm herangebaut eine nach vorn offene Hütte. Ein Vogelmensch im Gewand dreht einen Spiesz und begieszt mit groszer Geste den menschlichen Braten. Teller und Messer liegen parat. Es hängt ein Schild am Dach, dessen Inschrift aber nicht lesbar ist. Gegenüber, hinter den blinden Messerträgern, dem Bären, der Kriegerin nebst Trosz und in der linken unteren Ecke scheint noch eine Armee anzurücken, davor ein mächtiger, viereckiger Schild mit Sehschlitzen und einem gezackten, krummen Säbel. Darüber Waffen und ein Fähnlein mit einem Reichsapfel. Es sind auch hier, vor und hinter dem Schilde Mischwesen am Kämpfen und aus einem Krug über der herannahenden Wand rinnt Pech oder Teer. Sibylle zählt wieder bis sieben – die Kriegerin, die Messer-Knechte, die Menschen-Suppe, das umkämpfte Schiff an Land, die Herrin von Gifttrank und Fasz, Menschen-Grill und Glöcklein und schlieszlich die Armee hinter dem Schilde, das waren sieben Geschichten mit siebenmal Wut und Unheil. Es fehlen noch die Geräusche, und wieder kommt Sibylle auf sieben: das Prasseln des Feuers, das vielkehlige Schreien der Leidenden, die Rufe der Vögel, ein allgemeiner Schlachtenlärm, das Blasen der Frau aus dem Fasz, das Läuten der Glocke und der Ruf der Anführerin. Immer nur nacheinander kann Sibylle sich die Töne ausmalen.

Der zweite Tag, die Aktualität des Zorns

Am zweiten Tag hatte sie Appetit auf aktuelle Gesichter des Zorns und fischte sich eine Zeitung aus dem Altpapier-Container. Sie sucht nicht lange. Die Gesichter haben Balken vor den Augen oder sie zügeln ihre Gefühle so sehr, dasz ihre Augen einen Punkt jenseits des sie Photographierenden fixieren und sie ganz das Plakat in ihren Händen sein wollten. Fünf Frauen und ein Mann, auf den Plakaten waren Hauskatzen abgebildet, darüber stand „Vermisst“ und über und unter dem Photo: „Schon 300 Tiere vermisst – Besitzer haben sich jetzt zusammengetan“, „Wer hat diese süßen Katzen entführt?“ Sibylle lernte aus dem Artikel, dasz es einen Katzenschutzbund gibt, für den Gaby Nedetzki (37) spricht: „Die Tiere sind nicht weggelaufen. … Wir sind sicher: Die Katzenfänger werden aktiv, wenn es dunkel wird.“ Eine Woche lang verfolgte Sibylle ein Wort, eine Undenkbarkeit und contradictio in adiecto, das war die an die Zahl 300 angefügte „Dunkelziffer“ – die Dunkelziffer, die noch höher sei. In Lebenskrisen ihrer vergangenen sieben Leben hatte sie ab und an davon geträumt, wachend kannte sie nur Lichtzahlen, muszte träumend aber sehen, dasz es ein Gegenuniversum von Dunkelziffern gab, die danach trachteten, die anderen in den Schatten und schlieszlich ins Dunkle und Nichtleben zu zerren. Aber zurück zum Katzen-Artikel: Nach mehrmaligem Lesen gewann Sibylle nur über eines Klarheit: dasz man nichts wuszte über die verschwundenen Tiere. Und dasz diese Besitzer, die sich zusammengeschlossen hatten, geeint und beseelt waren vom Zorn. Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Wenn man an eine ewige Verdammnis nicht glaubte, und das schien Katzenbesitzer, Zeitung und Leserin zu einen, was geschah dann weiter mit den Zornigen? Nachts liefen sie durch Höfe, Grünanlagen, Parkplätze und riefen Pinkie, Dschango oder Tiger, schüttelten mit Trockenfutterpaketen, betätigten mitgebrachte Dosenöffner. Im Laternenlicht huschte eine Ratte oder ein Marder entlang. In Hinterzimmern von Kneipen fanden erregte Versammlungen und Pressekonferenzen statt, die Katzen auf den Plakaten waren grosz wie Flußpferde. Dann dauerte es nicht lang und die beraubten Besitzerinnen zogen losz, in bewaffneten Zügen, untereinander in ständigem Kontakt. Trotz modernster Kommunikations- und Navigationstechnik geraten sie in trüber Nacht auf Abwege, sind plötzlich auf Autobahn oder Truppenübungsplatz, wo sie auf mit Netzen, Schlingen und Betäubungsgewehren bewaffnete Männer treffen, einige tragen weisze Kittel und Mundschutz und laufen hinten. In den offenen dunklen Kleinbussen stehen Käfige, in den Fahrerkabinen liegen getigerte Fellkissen. Es kommt zur offenen Feldschlacht. Sibylle kann diesem Treiben mit dem Läuten eines kleinen Glöckchens ein Ende bereiten und kann den zweiten Fall viel eher abheften. Der Angeklagte Roman W. (21) der mit einem Balken über den Augen abgebildet ist, wurde vom Landgericht Hamburg wegen Totschlags in einem minderschweren Fall zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. In einer Bar auf St. Pauli hatte er einen gleichaltrigen Mann mit sieben Messerstichen mit einem Anglermesser getötet. Der Vorsitzende Richter liesz Notwehr als mildernden Umstand nicht gelten, erkannte vielmehr auf Wut und Zorn als Beweggrund der Tat. Das spätere Opfer hatte den späteren Täter zuvor beleidigt und bespuckt. Beide standen unter Drogen- bzw. Alkoholeinflusz. Sibylle plädierte auf eine klassische und kaum als aktuell bezeichnende Konstellation: Ehre, Zorn, Waffe, Tod, das waren die vier Enden des Kreuzes, die Droge war eine Dreingabe, wie es die Messer-Variante war. Roman W. war der Enkel von Gernot W., der stolz das Fahrtenmesser am Koppel trug, es stand „Blut und Ehre“ drauf. Insofern waren beide Verirrte, Naturfreunde, Angler und Wanderer, die in inadäquate, sie überfordernde Umgebungen geraten waren. Nein, die Ehre war keine Todsünde und sie war neugierig auf die sechs verbleibenden Wochen und Delikte.

2.Desidia, die Trägheit; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

2.Desidia, die Trägheit; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Die zweite Woche: Desidia

Das war die zweite Woche: Desidia. Das Wort steht unter einer schlafenden weiblichen Gestalt, die ein antikes Gewand oder ein Laken trägt. Sie stützt sich auf einen liegenden Esel auf und zu ihren Füszen kriechen drei sehr grosze Weinbergschnecken. Von hinten naht der Teufel, eine Wolfsfratze, eine Tiertatze und schleppt etwas herbei, das ein Kopfkissen sein könnte, dafür allerdings zu schwer zu wiegen scheint. Von links naht eine verkrüppelte, löffelschnablige Gestalt im weiten Umhang. Sie zieht mit dem Hals einen Bettkasten, in dem ein Liegender versucht, Brei zu löffeln. Eine halb hunde- halb rattenartige Figur wartet am Bettrand. Darüber und ebenfalls am linken Bildrand etwas wie eine Wirtshausszene in einer Baumhütte: an einem Tisch, auf dem nur ein Krug steht, von hinten zwei Nackte, ein Mann und ein Tier, dessen Schwanz von der Bank auf den Boden reicht, sie schlafen. Ihnen gegenüber, heftig von zwei reptilischen Teufeln von hinten, aus der Tiefe eines Baumhauses bedrängt, eine nackte, ebenfalls schlafende Frau. Mit groszen Flügeln nähert sich ein anderer Kissenschlepper, mit einem dreieckigen Schnabel die Last abstützend. Im hinteren Teil des Baumhauses ein schlafendes Paar in einem Bett, auf der Vorhangstange davor hockt eine Eule. Der obere Raum der Hütte ist ausgefüllt mit einem Uhrenräderwerk, einem Mann, der Handglocke und Meiszel schwingt und einem schiefen Brett mit zwei Würfeln, sie zeigen die eins und die drei. Über dem unbelaubten oberen Geäst in Höhe der Firststange und des oberen Bildrandes eine Axt und vier Glocken mit Seilen daran. Daneben und im Bildhintergrund eine Wassermühle, die gleichzeitig ein Abort und ein Kahn ist. Von hinten ist das blosze Hinterteil eines Riesen beim Defäktieren zu sehen, er guckt vorne aus dem Mühlen-Verschlag heraus und sein Blick spricht von Pein. Die kleinen Männer in dem Kahn ziehen an seinen Ausscheidungen und traktieren sein Gesäsz mit Stangen. Am Heck des Kahns ein rundes Zelt. Die dritte und letzte Szene im oberen Bildteil zeigt ein Uhren-Ziffernblatt vor einem tätigen Vulkankegel oder einer brennenden Turmruine. Auf den zweiten Blick bestätigt sich die zweite Sicht, es sind geborstene Mauern, die Zweige, Vögel und Rauch einrahmen. Das Zifferblatt ist geschmückt mit Sonnenstrahlen und ein langer menschlicher Arm zeigt auf die Zwei, da bemerkt die Betrachterin, dasz die Zahlen nicht stimmen, sie laufen verkehrt herum um die Ziffernscheibe, zumindest soweit das zu sehen ist, denn das untere Drittel tunkt ein in einen seichten See. Menschen stehen in ihm und gestikulieren zur Uhr hin. Das sind die fünf gröszten Geschichten auf dem Blatte „Desidia“. Die kleineren kennt Sibylle: darunter ein brennendes, kugelrundes Ei, aus dem ein Mensch schaut. Betrachtete sie nicht eine Zeichnung aus dem Jahre 1557, hielte sie es für eine Bombe. Diese Bombe liegt auf einem niedrigen Ziehwagen und wird angeschoben von einer hundeartigen Echse und gezogen von einem Teufel mit Schmetterlingsflügeln und Schlappohren.

Warum ein Teufel? Sibylle weisz es nicht. Die beiden anderen, wieder ist es die heilige drei, die sie für Teufel hält und die unter groszen Mühen einen Auftrag zu erledigen scheinen, haben ganz andere Physiognomien. Der Schlappohr-Teufel zieht die Karre ins Wasser, es fehlen nur noch wenige Zentimeter. Es war einfach nicht nötig, dasz ein Teufel ein Namensschild trug und es war auch nicht nötig, dasz er immer gleich aussah. Beendete sie ihren Uhrzeigerblick über das Blatt, kam sie noch an einem Kahn mit Baumstumpf, Kanne und Vogel, einem wiederum geflügelten Wesen mit Säge vorbei, das in den Berg, auf dem die Schlafende, die Allegorie, beschlosz Sibylle, eine Kerbe hieb. Die übrigen Figuren waren Betrachter, wirkten wie bloszes Nebenbeiwerk. Dies Blatt ist fast still, nur ein leises Mahlen des Räderwerkes aus dem Baumwirtshaus ist zu hören und von dort auch das blecherne Läuten der Handglocke.

Die Sünde der Trägheit

Am zweiten Tag der zweiten Woche sucht Sibylle nach modernen Gesichtern der Todsünde der Trägheit. Die Auffindung erweist sich als schwieriger, als die der vergangenen Woche. Im katholischen Katechismus steht sie an letzter Stelle und in ganz alten Auflistungen ist anstelle von Trägheit von Traurigkeit zu lesen. Im siebten Jahrhundert jedoch ist von der Trägheit, auch von der Trägheit des Herzens oder der geistigen Faulheit zu hören und zu lesen. Sibylle findet keine Gesichter. Sie findet ein Boot, dasz noch keinen Käufer hat: „Ein Traum in Weiß für 6,5 Millionen … Die Yacht der Superlative (31 Meter lang) liegt derzeit im City-Sportboothafen.“ Sibylle könnte hingehen und sie anschauen, am Heck der Schiffsname „Ocean of Love“, der von innen beleuchtet wird. Obwohl es sie nicht reizt, meint sie auf ihrem Hocker sitzend, der Artikel mit den sechs Photos (zwei Auszen-, vier Innenaufnahmen) ziele auf und profitiere von ihrer Trägheit. Sie muszte sich befragen, welche Rolle diese Sünde, sie dachte das Wort in Anführungszeichen, in ihren sieben Leben gespielt hatte. Trägheit und Faulheit waren ihr immer ebenso unvertraut gewesen wie Trauer und Langeweile. Am deutlichsten wurde das, wenn sie sich mit einigen früheren Freundinnen verglich. Drei Beispiele, die auch schon erkennen lieszen, weshalb es sich um frühere und ehemalige Freundinnen von Sibylle handelte: Da war erstens ihre Freundin Wera die sich pro Woche ein Kissen kaufte. Bett, Sitzlandschaft, Couch und schlieszlich die ganze Wohnung waren bevölkert von wurstartigen, runden und tiergestaltigen Kissen in noch mehr Farben und Dessins. Zweitens dachte sie an Heide, die unter Verstopfung, also Darmträgheit litt, und wahrscheinlich nur deshalb alle übrigen darüber auf dem Laufenden, beziehungsweise stockenden hielt, da sie das Übel für ein Symptom von Geiz hielt, den man der verschwenderischen, umtriebigen und konsumfreudigen Rothaarigen überhaupt nicht zuerkennen wollte. In Wahrheit aber war sie wie ihr Darm, verstopft und träg. Drittens hatte Sibylle nichts zu schaffen mit Grit, die unverschuldet mit 40 Jahren arbeitslos wurde und nie gröszere Anstrengungen unternahm, ins Erwerbsleben zurückzukehren.

Die noch herrenlose Yacht im Hamburger Sportboothafen wurde von „Werft-Kapitän Christian Berndt (38) als nächstes nach Monaco“ gelenkt. Unter dem müde aussehenden Mann am Ruder im Polo-Hemd die anderen Innenaufnahmen und daneben die anderen Zahlen: der zwei mal 2000 PS starke Motor braucht bei voller Kraft rund 760 Liter pro Stunde (wovon, stand nicht dabei), Höchstgeschwindigkeit 24 Knoten, 170 Quadratmeter Wohnfläche, elf Fernseher, vier Doppel-Schlafkabinen mit eigenem Bad. (Irgendwo war ein Stolz zu spüren, Stolz, eine solche Yacht hier „noch bis Dienstag“ vor Anker liegen zu haben.) Es blieben drei Fernseher übrig, drei Fernseher, in die niemand hineinsah, hineinsehen konnte. Auf der ersten Fahrt nach Monaco, nannte man es schon Jungfernfahrt oder erst dann, wenn „Ocean of Love“ in festen Händen war?, auf der ersten Fahrt also stellten die elf Fernseher und drei von ihnen in besonderem Masze eine grosze Gefahr dar. Sibylle muszte an Gefahr denken, weil sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den heutigen Folgen der täglichen Todsünden nachzugehen. Wie Fliegenfänger würden die drei Fernseher in Nordsee, Atlantik und Mittelmeer wirken, Seelen würden sie einfangen. Das konnte auf zweierlei Art geschehen: erstens, im fataleren Falle, würden die antistatischen Mattscheiben der TV-Geräte die Seelen der soeben verstorbenen, deren Fehlen noch niemand vermiszte, einfangen und nicht wieder hergeben. Im zweiten Falle würden die „elegant geschwungenen Linien, der schneeweiße Rumpf, die schlichte Eleganz mit allem Komfort“ im Mittelmeer die lebenden Seelen auffischen müssen, die von Seelenverkäufern über Bord gekippt würden oder die manövrierunfähig waren und deren SOS-Rufen würde sich der Werft-Kapitän nicht verschlieszen können.

Der Snack-Pack

Der zweite Beleg für die Gegenwart der Desidia war eine Anzeige auf der ersten Seite der Zeitung, 9,3 mal 5 Zentimeter grosz und mit folgendem Text: „Mahlzeit!“, darunter „NEU“, darunter der Markenname und ganz unten in Schreibschrift „So verführt man …“ Das beworbene Produkt war in der Mitte abgebildet, da stand noch einmal „NEU!“ und „pack2snack“. Es war ein Doppelkammer-Plastiknapf, der laut Aufdruck „Pellkartoffelsalat + 6 Mini-Frikadellen“ enthielt, darauf noch die Aufforderung „Sofort genießen!“. Sibylle fror. Sie hörte aus tausend Fluren ein gebrülltes „Mahlzeit“, roch den Hackbraten-Braten, wenngleich nicht dessen Grösze, aus 100 Anzügen, bemerkte die Rülpser von Mayonäse aus 100 Kehlen. Und doch schien es sich nur um eine Art Einstimmung zu diesem kleinen Snack-Frischepack zu handeln. Sibylle zählte die eingesparten Arbeitsschritte und blätterte weiter in der Zeitung. Am Ende wurde das Motiv „Snack“ wieder aufgenommen. Es schien sich um eine ständige Rubrik zu handeln und unter Punkt eins von dreien stand unter „Out“: „EM-Askese versuchen – wer möchte fluchen und jubeln ohne Buletten und läcka Mayo zu den Backofenfritten?“ Und wie man auf „Mahlzeit!“ selbiges zu entgegnen hatte, hatte man hier sich nicht zu äuszern, man wäre aus der Zeitung und allem gefallen. Sibylle beendete die Untersuchung mit der Feststellung, dasz die Todsünde der Trägheit, die Brueghel vor fast 450 Jahren die zweite genannt hatte, sich zwischenzeitlich auf Nummer eins bewegt hatte. Dort allerdings ein erstaunlich unauffälliges Leben führte.

3. Superbia, der Hochmut; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d. Ä.

3. Superbia, der Hochmut; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d. Ä.

Superbia in Woche drei

Das war die dritte Woche: Superbia. Um den Titel gruppiert sich ein Paar, ein radschlagender Pfau und rechts von ihm eine höfisch gewandete Dame mit Reifrock, die sich im Handspiegel betrachtet. Allerlei Gestalten, auch eine Art Trosz, umringen sie, schauen die Betrachterin an. Frauen mit hornartigen Hauben und Gesichtern, die in schnabelähnlichen Schnauzen münden. Dazwischen eine Nackte in Menschengestalt, die von einer der Haubenträgerinnen festgehalten wird und erschrocken schaut. Auf der anderen Seite, am andern Arm hält sie ein Hundsschnabeliger in Schäfertracht. Oberhalb von Pfau und sich betrachtender Hofdame ein kegelförmiges Kleid, es könnte gegossen oder gemauert sein, oben eine Kette, Ratsketten sehen so ähnlich aus, ein Köpflein ragt heraus, auf dem schief ein schildartiger Hut sitzt. Oder ein hutartiger Schild. Die obere Bildhälfte ist bebaut mit nie vorher gesehener Architektur, Türme, Hütten, Paläste, was sämtlich die Bauten nur unzureichend beschreibt. Menschlein laufen in ein Portal, das ein aufgesperrtes Maul ist, dahinter die Aufbauten einer Echse, drei aufgespannte Häute hintereinander, Augen, Nüstern, ein fast niedlich zu nennendes Näschen. Einen Bauch musz das Haus haben, denn in oberen Gefilden stauen sich Menschen, erklettern einen kahlen Ast, warten in einer Schüssel, einer Schale, die sichelförmig zuläuft, gegenüber ein Kasten mit Bullauge, gekrönt von einem halboffenen Ei, flankiert von einem angehobenen Bienenkorb, einer Leiter, einem Schild, Vögeln.

Die anderen fünf Gebäude sind komponiert aus geschwellten, gelappten, halb-kreisigen, kuppel, tonnen- und kegelförmigen Elementen. Spiegel und Steine scheint das eine zu tragen, aus Öffnungen in den Dächern strömt Rauch. Endlich entdeckt Sibylle etwas Bekanntes und zwar fast am rechten Bildrand – ein gotischer Erker und ein Rosettenfenster. Emus schauen oben aus der Kuppel, die sie vielleicht aufgepickt haben. Das Gebäude am linken Bildrand erinnert in seinem oberen Teil an eine abgegessene Birne, ist jedoch gekrönt von einer monstranzartigen Leuchte, einem kissenförmigen runden Knopf und darunter von krakenartigen Sternen mit fettem Bauch. Sibylle denkt an das Produkt einer silvesterlichen Bleigieszerei vor sieben Jahren. Vor der Birne und auf einem Mauervorsprung entleert sich ein nacktes Gesäsz in eine flache Schüssel, die bereits überflieszt. Der Strahl weist in das Innere des Hauses, einen Barbiersalon.

Vor dem Haus werden lange Haare gewaschen und hängen Becken und eine Laute an der Wand. Auf gleicher Blickachse und in etwa gleicher Entfernung von der Allegorie der SUPERBIA hält eine Figur, die oben Nonne und unten Fisch oder Pfau ist, einem zweibeinigen Monstrum den Spiegel vor. Auch sein Körper endet in einem Pfauenauge und der breite Mund in menschlichem Antlitz ist mit einem Ring geschmückt. Auf dem Spiegelbild fehlt der Stein des Rings. Auch auf diesem Bild sind noch viele weitere Wesen und Figuren in unterschiedlichsten Posen und Verrichtungen zu sehen. Ein Fluszlauf quert die Landschaft und Wassermurmeln und Rinnen und das trockene Geräusch von Federaufschlagen bilden die zurückhaltende akustische Szenerie.

Sibylles Schere suchte Zeugnisse oder Spuren von Hoffart, Hochmut und Stolz. Sie musz jetzt streng sein, soviel Haut und Anzug- und Trikotstoff drängt sich ihr vor die Klingen. Zwei Gruppen sortiert sie und eine enthält wörtliche und die andere körperliche Überhebungen und es ist ein männlicher und ein weiblicher Stapel. Die Weiber liegen links, die Quersumme der Seitenzahlen ist wie erwartet eine gerade Zahl, die Männer liegen rechts. Die Frauen schieben ihre Brüste nach vorn und auf S. 19 präsentieren sich neben einer Blondine im Bikini Mutter und Tochter, erstere mit Goldkettchen und Clips, letztere ist auf dem runden Bildausschnitt Schmuck- und Textilfrei. Legende: „Mama Erna drückt bei Nackt-Heidi auf den Auslöser“. Ähnlich der Titel: „Mama Klum fotografiert ihre süße Heidi nackt“. Die Tochter über den Sinn des Vorhabens: „So kann ich meine Fortschritte beim Abnehmen sehen.“ Dieser wird durch eine 1700 bis 2000 Kalorien-Diät und 60 Minuten Training „mit ihrem Fitness-Coach David Hirsch“ angestrebt. Kiloangaben fehlen. Die drei Mädchen Anja, Nina und Rebecca von Seite 6 hingegen blicken auf einen bezifferbaren Erfolg zurück und können auch die Belohnung in Zahlen ausdrücken. Titel: „Guck mal, so schick gehen wir heute zum Abi-Ball“. Alle drei Hamburgerinnen sind 19, Anja hat einen Abiturdurchschnitt von 1,3, Nina von 2,1 und Rebecca von 2,7. Alle sind zufrieden. Hinter dem Notenschnitt stehen die Preise für ihre Kleider, bei Rebecca sind es 30 Euro, bei Nina 140 Euro und Anjas Kleid aus blauer Seide wurde für sie in Vietnam genäht und sie verrät uns nicht den Preis. Für Sibylle ist damit alles in bester Ordnung, Noten korrelieren und rufen nach Preisen, die drei sind im Badezimmer und in Pose abgebildet.

Suche nach Superbia

Die Männer, die sich von rechts ins Bild drängen, tragen Sportbekleidung mit Adler, Streifen, Sternen und Sportartikel-Logos. Über dem Kopf des linken Mannes hängt ein strahlender, halber Fuszball wie eine Sonne oder wie ein Halo. Zwischen seinen Unterschenkeln lesen wir: „Wo ist mein Knipser? Teamchef Rudi Völler (44) weiß: Ein Sieg ist Pflicht.“ Der linke Mann ist mit zwei Zahlen vorgestellt, 32 ist sein Alter und 35 die Anzahl der Länderspiele und seine Gliedmaszen schauen aus wie die vier Flügel einer Windmühle, derart ist der Fußballer in Bewegung. Rot hervorgehoben die verbale Aussage des Titels, in der auch der Artikel endet: „So will Rudi die Letten plätten“, im letzten Satz ist diese Absicht die eines „Wir“: „Schließlich wollen wir den Letten eine ver-plätten…“ Vor Sibylle liegt Superbia in diesem Augenblick platt vor. Sibylle weiß aber, dasz die Sünde keine Ebene ist, eine Todsünde schon gar nicht. Es gibt keinen Punkt, von dem aus alles sichtbar ist. Sibylle kann zum Beispiel gerade nicht sehen, aus welchem Grund Superbia geschieht. Beim weiteren Sichten der Fälle stöszt sie auf zwei strahlende Männer in Anzügen, die vor dem Hamburger Rathaus posieren und die drei Buchstaben SPD in der Hand halten. Es handelt sich um ein Interview mit den beiden SPD-Politikern Michael Neumann und Mathias Petersen unter dem Titel, der als Zitat kenntlich gemacht ist: „Erst kippt Justizsenator Kusch, dann die Schulsenatorin“. Sibylle sucht nach einem Muster. Auf die Frage: „Wie erklären Sie sich den Vertrauensverlust?“ „faltet Petersen die Hände“: „Vielleicht waren wir nach 44 Jahren an der Regierung etwas überheblich geworden.“ Weitere Exempla für Rückblicke auf gewesene Überhebungen findet Sibylle nicht und so schlieszt sie die dritte Woche mit vielen offenen Fragen und fehlenden Gesichtern.

4. Avaritia, der Geiz; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

4. Avaritia, der Geiz; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Woche vier: Avaritia

Das war die vierte Woche: Avaritia. Es thront eine Dame in der unteren Bildmitte und also an erwartetem Ort und greift mit der Linken in eine Truhe während ihre Rechte im Schosz die Goldtaler zu streicheln scheint. Bestimmt sind es Goldtaler. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Zu ihren Füszen kriecht eine sehr fette Kröte, die sich ihrerseits auf einen anderen Dukatenhaufen zubewegt. Doch zurück zur Truhe: sie wird aufgefüllt von einem zipfelkappentragenden, hundsschnabelgesichtigen Wesen in mönchischem Gewand. Um die Dame A. herum stehen Fässer mit Dukaten, eine Geldkatze und eine tragbare Kaufmannswaage, die Sibylle an ihren Laptop erinnert. Kröte, Dukatenschlepper und die das Gold Genieszende befinden sich vor einer offenen Hütte, einer Art Unterstand, in dem ein Bettler, der einen leeren Teller vorstreckt, abgewiesen wird. Zwei Szenen auf dem Dachfirst: einem Kletternden werden von einem Vogel die Augen ausgepickt. Und ein Fischreuse, die vom Zwiebeldach der Hütte pendelt, in den ein Vogel eingesperrt ist, ist Gegenstand von Angriffen mit Armbrust-Pfeilen, einzelne Goldstücke tröpfeln aus dem prall gefüllten Netz. Die Angreifer scheinen von hinten mit Angeln um ihre Tascheninhalte erleichtert zu werden. Unten am Boden haben sich insgesamt drei – im Hintergrund eine vierte – Rotten gebildet, die eines der Bauwerke angreifen. Bei den Zielen im Hintergrund, pilzartige Türme mit Hut- oder Zwiebelabschlusz im westlichen und im östlichen, ist Sibylle versucht, zu sagen, ist der Gegenstand der Begierde nicht zu erkennen. Es könnte sich bei der Belagerung und Erstürmung des östlichen Turms um einen Spartopf handeln, einige Aufgeregte aus der Menge beugen sich über eine fast schildgrosze Münze mit einem Kreuz. Immer ist sie auf Vermutungen angewiesen, desto ferner die Darstellung, desto mehr Selbstgedachtes, von anderen Bildgegenden Fortgesponnenes. Dann sieht sie überall kleine runde Metallstücke, denkt kurz und vergeblich, was wohl sonst es sein könnte und Arme und Hände, die wie eine Verlängerung derselben sind. Wohinein eine Verlängerung? Das weisz sie noch nicht. Mühelos zählt Sibylle sieben Talerszenen. Ein Gewässer fehlt. Ist das ein Rumpfmensch, der in einem Geldsack endet? Und scheffelt vorne rechts am Bildrand der geflügelte Teufel Geld aus einem zerschlissenen Sack? Was wird auf der mutmaszlichen Balken-Waage am Horizont gewogen? Sibylle hört Klimpern, Klacken und Prasseln.

Coupons + Bons = Avaritia

Die Aktualität der Avaritia steht an diesem vierten Tag der vierten Woche unter der Sechs, denn Sibylle findet die Belegstellen auf Seite 1, auf Seite 6 und auf Seite 12. Die Zahlen-Botschaft wird sie am Abend enträtseln, vorerst schneidet sie aus, sucht nach Angeboten, die den Geiz hervorlocken, zeigen, vielleicht befriedigen. Mit der Schere in der Hand stutzt sie auf Seite eins. Um das obere Seitendrittel ist eine gestrichelte Linie gezogen und mit einer geöffneten Schere links und einer rechts markiert. Einen Moment lang fühlt Sibylle sich ertappt, meint, ihre allwöchentliche Sünden-Sammelei habe eine Resonanz gezeitigt. Im Zentrum des Coupons zwei Zahlen-Begegnungen, es sind zweimal die 6 gegen die 79. Die sechs ist illustriert und meint einmal sechs Flaschen Bier und einmal sechs Würstchen, 79 ist die Preisangabe in Cent. Der vorletzte Satz des blau unterlegten Kastens erklärt das Vorgehen: „Sparen Sie mit dem BILD-Coupon (einfach diese Schlagzeile ausschneiden) über 50 Prozent auf den Normalpreis.“ Eine Aktualisierung des Geizes ist also die Sparsamkeit, ein Wert, für den ein körperlicher Einsatz erwartet werden kann, eben das Ausschneiden des Coupons, und ein Teil des köstlichen Lohns, von der Strafe wird gleich noch zu reden sein, ist die Zahlen-Relation: „Ein(en) Sixpack Bier … 6 x 0,5 Liter für unschlagbare 79 Cent! Und einen Six-Pack Delikatess-Bratwurst (540 Gramm) ebenfalls für nur 79 Cent!“ Auf Seite 6 entdeckt Sibylle in einem zahlengesättigten Artikel eine Verbindung von Tod und Sparen, von Ertrinken und Geiz: „Im Etat (gemeint ist der der Stadt Hamburg) enthalten: Bürgermeister von Beusts „Spar-Hammer“, z.B. die Streichung des Schwimmunterrichts, die Halbierung der Filmförderung…“ und Sibylle vermiszt hier die Ersparnis in Zahlen und die mögliche Gegenüberstellung zu möglichen und unmöglichen Rettungen vor dem Ertrinken. Es ist dies Sparen ein viel weitreichenderes, da das Gegenüber nicht mit Zeitung und Schere zustimmen musz und, da an anderen gespart wird, die Menge potentiell unendlich grosz ist. Auch Avaritia, dem Geiz, dem Horten, Streichen, Behalten und Wuchern wohnt eine Sehnsucht nach Unendlichkeit inne. Sie musz noch vergleichen und am besten berechnen, bei welchen der Sieben Sünden dies noch der Fall ist. Ist es eine Sehnsucht nach der liegenden Acht oder nach der Null? Auf Seite 12 noch eine Geschichte um doppelte Sparsamkeit, die nicht die Zustimmung der Zeitung findet. „Leonie (2) darf endlich wieder fressen!“ Leonie ist eine Mischlingshündin aus Nürnberg. „Frauchen Gerda M. (47) hatte sie auf lebensgefährliche 12 Kilo hungern lassen, damit sie im Handgepäck auf eine Flugreise mitkommen kann! Das kraftlose Tier wird jetzt in einem Tierheim aufgepäppelt.“ Unbemerkt scheint Gerda M. hier abgerutscht zu sein, scheint eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben. Ob Gerda M. jetzt alleine die Flugreise angetreten hat, oder aufgebrachte Leser sie beim Abholen der Billig-Flugtickets gestellt und für ihren Geiz gegeiszelt und schlieszlich erschlagen haben – mit einem Spar-Hammer oder einem Six-Pack, es interessiert Sibylle nicht weiter.

5. Gula, die Gier; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

5. Gula, die Gier; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Gula in Woche fünf

Das war die fünfte Woche: Gula. In der linken Bildhälfte das gröszte und gröbste Getümmel: eine mächtige Frau auf einer Sau, nicht reitend, sondern das Sau-Hinterteil als Sitzmöbel nutzend und aus einem Krug in sich hineinschüttend, fünf Kumpane hocken um den Tisch herum. Sie musz „Gula“ sein. Die Gruppe ist behaust von einer Hütte, die Sibylle noch schäbiger vorkommt, als die zuvor gesehenen. Lebendes und geschlachtetes Federvieh hängt von Dach und Baumstamm. Ein Messer schneidet ab von einem Braten, Münder sind aufgerissen, Krüge angesetzt, eine Nackte präsentiert Krug und geschwollenen Leib, ein Zwerg bringt Speisen. Wachtelbrüstchen, denkt Sibylle. Ein Hundsschnabelköpfiger scheint die grosze Schüttende um einen Trank anzugehen. Sibylle hält das Unterfangen für aussichtslos. Rechts vom Gelage, ein Brei löffelnder Kopfmensch marschiert auf seinen Ellenbogen in die Richtung, übergibt sich auf einer Brücke ein Mann, er wird gestützt von einem Spitz-schnabeligen in Kutte, der einen Becher bereit hält. Das Erbrochene trifft im Wasser auf einen erschrockenen Schwimmer. Rechts oben ist ein kniender Riese in einen Turm eingemauert, der oben ein Bratrost ist. Der eingezwängte Kopf schaut heraus, der Spiesz müszte in seinem Schädel stecken. Es dreht niemand die Kurbel. Vorne wie eine Kühler- oder Galionsfigur ein nackter dicker trinkender Mann. Unter ihm lugen zwei Käfige aus dem Bratturm. Am anderen, linken Bildrand steht eine Windmühle mit Menschengesicht und wird mit Säcken gestopft. Darunter schiebt ein Mann seinen sackartigen Bauch in einer Schubkarre vor sich her. Beine und männliches Geschlechtsteil zappeln und verschwinden in einem Fasz. Darunter verschlingt ein echsenartiger Fisch einen Fisch, sein Bauch ist aufgeplatzt und wurde offenbar bereits genäht. Die beiden Hundeartigen, die Speisen aus einem umgestürzten Bottich und einem geschulterten Tablett erbeuten, könnten Hyänen sein. Sibylle ist damit einmal herum gelaufen um Gula und hört Schreie und Erbrechen und einen feinen Wind.

Fleisch im Angebot

Sibylle bemerkt in der fünften Woche ein Ohrengeräusch, auf dem linken Ohr hört sie ein hohes Fiepen, das von oben und hinten zu kommen scheint. Von der heutigen Zeitung erhofft sie sich wenig, denn sie sagt sich, dasz Gula viel zu gewöhnlich und gehätschelt ist, als dasz sie einen eigenen Auftritt bekäme. Die Fleischanzeigen der Supermärkte der vier bisher ausgewerteten Zeitungen ergäben aneinandergelegt die Grundfläche ihres Zimmers, einen rosa-melierten Bodenbelag oder einen blut-marmorierten Himmel. Am Zeitungstag geht sie sieben Mal ihre sieben Block-Runden. War es sinnvoller, schon vorher die Differenz zwischen Gula und Avaritia zu kennen oder sollte sie diese Differenz am lebenden Beispiel herausarbeiten? Wenn sie denn welche fände. Erst beim siebten Rundgang kaufte sie beim Kiosk, der am weitesten von ihrer Wohnung entfernt lag, das bunte Blatt. Auf neun Seiten kein Befund. Gelegenheit, vergangene, eigene Sünden der Völlerei abzuwiegen. Von den heroischen Krankheiten weiblicher Adolszenter, die der leibverliebten Überfluszgesellschaft einen Spiegel vorhielten, hatte sie sich stets fernzuhalten gewuszt, mag sein unbewuszt durch mütterliches Vorleben. Mutti, die auf der Strasze stets ostentativ stehen blieb, wenn ein adipöser Leib an ihr vorbeiwatschelte und zu Mitpassanten sprach „Wie kann man sich nur so wenig im Griff haben!“, hatte vor allem die Unmäszigkeit und jederlei gemutmaszte Sucht verabscheut. Sibylle kaute die Frage ihrer Jugend wieder, ob und was das mit religiösen Regeln zu tun habe. Auf Seite zehn der Zeitung fand sie eine kindlich formulierte Frage und in den Antworten der Besucher eines Motorradgottesdienstes eine gewisse Nähe zu Gula. Unter der Frage „Glaubt Ihr eigentlich an den lieben Gott?“ las Sibylle „Sie kamen, um zu beten. Doch dann plauschten sie lieber oder aszen Würstchen.“ Peter Oest (46) aus Memmoor verlautete: „Das Vaterunser kenn ich leider nicht, dafür aber das ‚Bier unser‘.“ Sibylle vermiszte Eindeutiges, vermiszte auch Zahlen. Zwei Seiten weiter macht sie zwei Funde. In einem Artikel taucht der Ausschneide-Coupon von der vorigen Ausgabe wieder auf. Drei der vier abgebildeten, strahlenden Personen halten ihn in der Hand und dazu Würstchen- und Bier-Pakete in Folie. Einzig Hausfrau Waltraud Versen (68) aus Essen hält nur die Wurst-Packungen in Händen, die Bierflaschen ragen aus dem Einkaufswagen. Sie sagt: „Ich kaufe hier für mich und meinen Mann ein.“ Demnach wird jeder von ihnen sechs Würste und sechs Biere konsumieren. Dann erst liest Sibylle den Titel: „Wurst und Bier – so völlerten wir“. Darüber sitzt Jurastudentin Marika Woite (24) aus Frankfurt in einem Einkaufswagen und neben ihr, auf ihrem Schosz und in ihrer Hand fünf Sechserpacks Würstchen, die einen Ton heller sind als ihre Haut. Plötzlich wird Sibylle bewuszt, dasz sie ein gesäubertes Brueghel-Blatt mit schwächeren Bildern in Händen hält, denn auf der gleichen Seite der Choc: „10 Menschen durch Sojadrink vergiftet“. Das Produkt Green Gold Power Food, das jung, schlank und gesund machen soll war die Ursache. Einer der zehn sog. Wellness-Opfer kam ins Krankenhaus. Eine Firmensprecherin erklärt, dasz nicht ihr Produkt, sondern die zum Anrühren des Algendrinks benutzte Vanille-Sojamilch der Urheber der Unverträglichkeitsreaktion sei. Am Schlusz der Meldung wird der Diät-Völlerei ein amtlicher Segen und Riegel vorgeschoben: „Jetzt untersucht das Gesundheitsamt eine Probe des Getränks.“ Eine runde Sache ist die Suche für Sibylle doch noch geworden und der endlichen Abrundung dient die Gegenüberstellung der Wurst- und Bier-Kunden und der Sojadrink-Opfer: „Tausende“, die sich „das Superschnäppchen aus dem Supermarkt holten“ versus zehn Gästen der Werbeveranstaltung, denen schlecht wurde.

6. Invidia, der Neid; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

6. Invidia, der Neid; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Invidia in Woche sechs

Das war die sechste Woche: Invidia. Invidia trägt eine Spitzhaube mit Schleier. Sie stopft sich etwas in den Mund und weist mit der Rechten auf einen fast menschengroszen Truthahn. Von hinten wird sie von einem kleinen Ungeheuer mit einem Reif bekrönt, was sie wahrscheinlich ebenso wenig sehen kann wie den dargereichten Apfel. Eine Baumruine birgt einen Geist und trägt Knöpfe und Pfauenfeder-Augen. Dahinter eine Brücke, über die ein Leichenzug mit vermummten Gestalten zieht. Unter der Brücke zwei Schiffe. Das entferntere sinkt, umgeben von Planken, die aus dem Wasser ragen, die Besatzung scheint sich hilferufend und händeringend an sie, Sibylle, zu wenden. Näher zu ihr, in der Mitte des Blattes, treibt ein Kahn, der teilweise ein Mensch ist. Der Menschenkopf am Bug starrt nach oben, dünne Beinchen ragen mitschiffs ins Innere, wo sie auf Reisig, Vögel, kauernde Vogelmenschen und einen ganz kleinen Hilferufer treffen. Sibylle kommt in den Sinn, dasz dies Schiff die ruhigste und zeitloseste Einzelheit von allen ist. Echteste Gegenwart. Überall sonst ein Drängen und Wollen – wie bei dem geflügelten Fisch an Land, der sich auf einen Kopfrochen hin bewegt. Der hat einen Pfeil in den Nüstern und schiebt sich mit einer Kralle einen Schuh in den Rachen. Plötzlich sieht Sibylle nur noch Schuhe. Daneben schläft eine Frau in einem Korb, auf ihrem Kopf ein Schuh, an einer Angel, die sie hält, ein Schuh, neben ihr einer und vor dem Korb auf einem Schemel ein Paar Schuhe, einer noch an der Erde, der den Appetit des Rochenfüsslers anzuregen scheint. Bei Schuhen, dies hier sind derbe, bäuerliche Fuszbekleidungen, geht es nicht um das Naheliegende, da ist Sibylle sich sicher. Am linken Bildrand eine Schumacher-Werkstatt: ein Paar Stiefel am First, Pantinen wie Brote aufgereiht auf Regalen und ein Zug nackter Kunden bekommt nacheinander Schuhe angepaszt, die Beschuhten gehen wohl nach links ab. Zu Füszen von Invidia zerren zwei Köter an einem Knochen. Jetzt mag sie nicht mehr schauen. Das ist die Nummer sechs. Siesta, das ist die sechste Stunde, die Hand reicht nicht mehr aus. Die Zehen auch nicht. Wem der Schuh paszt oder drückt, es hat sie nie gereizt, der Putz nicht, der Sinn nicht. Aber es wundert sie, dasz sie hier schaut nach Schuh und dem Grund darunter. Ein fernes Schreien der Ertrinkenden, die Klagelaute des Trauerzuges, das Hundeknurren – das ist alles.

„9 Monate für Sozialbetrug“

Wenn der Neid, also Invidia, ein Schuh war, dann paszte er ihr in gar keinem Fall und hatte das nie getan. So enges Schuhwerk, dasz es einem den Atem nahm. So schmerzende Hüllen, dasz jeder Barfüszige oder Lahme gehaszt und begafft und verfolgt wird. Ich allein musz Schuhe putzen und Staub essen, achtlos stolzieren die Prinzen und Prinzessinnen an mir vorbei – wie infantil das war. Sibylle war wie andere Menschen auch und niemals hatte sie das so sehr empfunden, wie gerade jetzt. Keine Neidkampagne in Sicht, kein Politiker, der von Sozialneid oder Neidsteuer sprach. Sie war nicht anfällig und glaubte nicht, dasz es sprechende oder gar bildgebende Belege für Sünde Nummer sechs gäbe in der Ausgabe der sechsten Woche. Sibylle blättert und sucht und blättert, sieht sich hinter Glas sitzen und dahinter feiern die Damen mit Spitzhaube und Schleier, was tat es, wer auch immer sie waren, die Damen in Ballkleidern von der gestrigen Promi-Party, in roten Kostümen, oder in String-Tangas oder barbusig, die reichen, alten Herren mit Damen im Alter ihrer Töchter und Enkelinnen an ihrer Seite, nein, das war nicht des Neides wert, die Autos, die übrigens nicht mehr mit Zahlen, sondern mit Buchstaben ausgezeichnet wurden, die Welt, die Halbwelt, die Oberen Zehntausend, glänzten nicht die Gesichter zu sehr, war das Lächeln nicht geliftet, die Lippen nicht unterspritzt, der Spasz drogengetunt. Sibylle kannte diese Leute nicht, die zur „Vattenvall Business Media Night“ gekommen waren. Die Namen einiger der „rund 600 handverlesenen Gäste aus Wirtschaft, Politik und Kultur“ waren fett gedruckt. Nein, kein Neid-Gelage, no Envy-Event, lauter Pantinen und Pantoffeln sagte sie sich eins ums andere Mal. Der Lohn für die Lektüre ist der Anstieg der gefühlten Temperatur: auf eben der Seite fünf, neben den Filmproduzenten, eine Geschichte, die sie förmlich durchbohrt, ohne Namen, ohne Foto, es trifft sie unerwartet, schiebt ihr spitze Steinchen unter die Sohlen. Titel: „9 Monate für Sozialbetrug“. Die ersten drei Sätze von sieben, Sibylle liest sie wieder und wieder: „Er war arbeitslos, kassierte Sozialhilfe – und arbeitete schwarz als Putzhilfe. Schaden für den Steuerzahler: 12 600 Euro. Deshalb stand ein Afrikaner (37) gestern vor Gericht. Das Urteil: 9 Monate auf Bewährung.“ Sie schnitt die Meldung aus und unterstrich die Zahlen.

7. Luxuria, die Wollust; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

7. Luxuria, die Wollust; Holzschnitt nach Pieter Brueghel d.Ä.

Luxuria: die siebte Woche

Das war die siebte und letzte Woche: Luxuria. Sie ist eine Nackte, Langhaarige und ihre rechte Hand liegt auf ihrem Venushügel und die linke umarmt ein Mischwesen, mit Kapuzenmantel und Schuppenbeinen, dessen lange Zunge aus langer Schnauze in ihren Mund will und dessen Klauen unter ihrer Brust entlang fahren. Auf der Rückenlehne ihres Stuhls sitzt ein Hahn. Drumherum ein Baumhaus, in dem sich noch drei Einzelwesen mit Fischmäulern aufhalten. Darüber ein Hirschkopf und ganz oben und bereits am Bildrand eine aufgeklappte Muschel, in der eine grosze, transparente Perle steckt. In ihr sitzen sich ein Mann und eine Frau, beide nackt gegenüber (Sibylle hat es nicht anders erwartet) und betastet einander. Da sie sich in einigem Abstand einander gegenübersitzen, scheint der Gesichtssinn von Bedeutung zu sein. Ein Gewächshaus ist überwuchert und gibt den Blick auf eine lauernde Eule an einem Tisch frei. In einem Brunnen tollen Liebespaare. In der geographischen Mitte des Blattes eine Art Prozession: vorneweg ein Dudelsackspieler, gefolgt oder eher flankiert von einem Frosch mit männlichem Geschlechtsteil. Dahinter ein Mann mit auf dem Rücken gebundenen Händen, bekleidet nur mit einer papieren aussehenden Bischofs-Mitra, an der vorne ein Schriftstück klebt. Niemand auszerhalb des Bildes soll die drei Zeilen lesen können. Er schreit. Er wird von hinten mit Ruten bestrichen. Er reitet auf einem verhüllten Tier, Klauen und ein Pferdeschädel schauen heraus. Die Menge setzt sich aus Sibylle schon bekannten Gestalten zusammen – Fischmensch, Schnabelmensch, Krötenmensch. Ein menschliches Paar scheint von der Prozession mitgeführt zu werden, auch ihre Hände scheinen gefesselt zu sein. Im rechten Vordergrund spreizt ein auf dem Rücken liegendes Monstrum seine Beine und zeigt zwei untere Körperöffnungen. Darunter berührt ein hochbeiniger Vogel das Gesäsz eines seine Notdurft verrichtenden Menschen fast schon mit seinem Schnabel. Sibylle meint annehmen zu können, dasz der Schnabel in die Öffnung hinein soll. Links daneben ein am ehesten tierisch zu nennendes Paar in kopulierender Verklammerung. Ein Kopffüssler hält ein gesprungenes Ei mit einem darin steckenden Messer in die Höhe. Links daneben, jetzt schon auf der anderen Seite von Luxuria und ihrem Liebhaber hockt ein behelmter Mann auf der Erde und haut sich gerade sein Geschlechtsteil ab. In der anderen Hand hält er ein krummes Glied, das von einem noch gröszeren Mann oder Männchen stammen könnte. Sibylle kann nicht erkennen, dasz irgendwo eines vermiszt wird, oder doch dort, wo ein hochgerecktes Hinterteil ausspeit wie ein Vulkan, es wird fixiert von einem Drachen oder Greiff. Sie meint, es verhält sich hier wie mit den Schwänzen von Eidechsen, die bei Verlust sich kleiner ergänzen. Ein kopulierendes Hunde- oder Hyänenpaar wird gleich erschlagen von einer Person aus dem Hinterhalt. Im Bildhintergrund ein Leviathan, er macht Beute in einem Wasserpalast. Zwei Seeschildkröten hängen wie Ornamente am Turm. Sibylle sieht sich einen Moment lang auf dem Blatt sitzen, rechts in der Ecke, sie trägt Haube und einen Echsenunterleib und zeigt einem gefesselten Mann, den sie umfaszt, Weg oder Zukunft; ihr Zeigefinger deutet auf die Flagellanten. Dann hört sie ein Schlecken, ein Lecken und ein Ploppen.

Luxuria – die gewöhnlichste Sünde?

Jetzt ist sie überall gewesen und siebtens und letztens musz sie aktuelle Belege herausschneiden für Luxuria, die ihr gleichwohl die gewöhnlichste Todsünde zu sein scheint. Sie schneidet und schneidet um Fleisch und Anderes herum und beschlieszt, bei Aktualität sieben zu schlieszen. Sie sichtet: sechs Mal wird appelliert an die Wollust des Lesers, davon einmal an die des Pädophilen, einmal an die des Sado-Masochisten und nur einmal berichtet das Blatt von einem Personenkreis, der „nur an Sex denkt“. Es sind, so Titel und Text, die Tschechen: „Was schwirrt den Tschechen sonst im Kopf rum? Sex, Sex, Sex.“ Sibylle stutzt, da sie sich auf der Sportseite befindet. Aber nicht um eine Disziplin handelt es sich hier, sondern um ein potentielles Hindernis auf dem Weg zum Sieg bei den laufenden Fuszballmeisterschaften. Die Scham einer Sängerin wird ausgebreitet, die sich für eine „sexy Jugendsünde“ „schämt“, und Aufnahmen aus einem vor fünf Jahren gedrehten Erotikfilm sind zu sehen. Drei von vier jungen Frauen, die Stars werden möchten, präsentieren sich mit Oberteilen. Sibylle musz auf Seite 24 um die Silhouette einer Tennis-Spielerin herum schneiden, die fliegenden Rockschöszchen ragen in die Nachbarartikel. Mit 6:3 und 6:1 habe sie abgefertigt. „Die Titelverteidigerin bot nicht nur Power-Tennis, sondern auch etwas fürs Auge. Weißes Flatter-Kleidchen mit ‚Sicht-Fenstern’ auf dunklen Muskel-Paketen.“ Sibylles Auge dringt nicht durch die „Sicht-Fenster“. Hätte die „Serena“ genannte Sportlerin nach Sibylles Meinung Chancen auf den Titel zur Wahl der aktuellen Allegorie der Luxuria?

In Sibylle wächst nach der siebten Woche ruhige Zuversicht. Denn hinter ihr liegen sieben Berge und sieben Täler, sieben Schmerzen und Sünden, Pfeile, Klingen, Krüge und Hütten; Hauben, Schnäbel und Schwänze. Eingeschlossen ist in ihr die keimende Bereitschaft für etwas, das sie noch nicht kennt. Vor ihr fallen aus einem roten Himmel, es könnte aber auch ein Theatervorhang oder körperinnere Wände sein, zwei grosze Kugeln, kullern auseinander, kullern wieder zusammen und haben ein Gespinst, ein Geweih, einen Haarkranz um sich. Um eine Welt-, oder eine Billardkugel konnte es sich nicht handeln, denn hier gab es eine Vorder-, eine Schauseite, über die sich von oben nach unten eine Art Tor schob. Meistens lag das Tor oben in Falten zusammengeschoben, unten war eine Dichtung aus gebogenen Borsten angebracht, die beim Schlieszen auf eine ebensolche, etwas spärlichere traf. Beide standen sich gegenüber, als Zirkusmusik, gespielt von einem Symphonieorchester, erklang. Wie auf einer Zielscheibe ohne Hilfslinien lag ein kleinerer dunkler konzentrischer Kreis in einem hellen. Als die Musik sich fanfarenhaft steigerte, sprang die eine Kugel in eine goldene, kannelierte Schale und die andere sah ihr zu und da plötzlich erkannte Sibylle, dasz sie der Luxuria-Preisverleihung bewohnte. Dem Auge als Augapfel wurde der Cup, der wie ein fehlgepreszter Eierbecher aussah, zuerkannt. Kaum hatte sie die Lösung geschaut, schlosz sich das Fenster.

Ist Sybille ein Siebenmonatskind?

Stern unter Sternen, Königin unter Königinnen, Mensch unter Würmern – das war Sibylle, da sie über die Sieben gebot. Siebenfach öffnete sich Sibylle ein Kelch, aus dem ein Sekret troff: die Sieben, der Anfang. Denn mit zweimal sieben Jahren kann sie gebären und mit sieben mal sieben Jahren wechselte sie einiges in ihrem Leben. Sie selbst war ein Siebenmonatskind und strich im Kalender die Neumonde rot an. Die Sieben war auch die Zahl des abgeschnittenen Familienanfangs, man hatte ihn liegenlassen müssen, in Siebenbürgen hinter Böhmen und Mähren, für dessen Schönheit, so erklärte das Kind Sibylle es sich, die Familie siebenmal bürgte. Und dann war das unverlierbare Reich der Töne, gebunden in Oktaven, die Siebener-Intervalle. Sibylle löste mit ruhiger Hand ein Siegel nach dem anderen ab. Was sie studiert haben könnte, geboren in anderem Körper und vor z.B. siebenhundert Jahren war siebenfach: die Sieben Freien Künste bzw. Wissenschaften. Die Musik gehörte dazu, ferner die Grammatik, die Rhetorik, die Dialektik, die Arithmetik, die Geometrie und die Astronomie. Fünftens war die Sieben die Hauptzahl der Hydra, der vor-olympischen Wasserschlange, unbesiegbar und innovativ.

Sechstens ist die Sieben in der Kabbala, wo die Zahl wesenhaft, gottvermittelnd und handlungsleitend ist, „Nezach“, was Triumph bedeutet. Siebtens die dreigestaltige Gott-Gestalt der Sieben; das ist Ishtar, Saturn und Athene. Letztere erfand die Zahlen und die Wissenschaft dazu, Textilarbeiten und vieles andere mehr. Sie war durch Schaden klug geworden, erst vom Vater aufgefressen, dann aus seinem Kopfe geboren. Die Sieben ist ihre Zahl, man lese das nach bei Philolaos, fünf Jahrhunderte vor der Zeitenwende. Aus Macht-klugheit friszt Saturn die eigenen Kinder, fünf an der Zahl, bis seine Frau ihm einen Stein zu fressen gibt. Im Universum ist er der letzte mit freiem Auge sichtbare der Wandelsterne. Weiter ist der Gang zur groszen Ishtar in Babylon, die an jedem der sieben Tore zur Unterwelt ein Gewand ablegt, um danach barhäutig der Ewigkeit zu begegnen. Die Venus am Firmament. (Die Sieben ist die Zahl der Lösung, wer weisz das nicht, dasz sieben Jahre vonnöten sind, um von einem Zauber erlöst zu werden.)

An den errechneten Tagen suchte Sibylle das Weite. In den Körperteilen eins bis sieben spürte sie die Kraft der sieben Riesen. Sie war sich dabei durchaus der Tatsache bewuszt, dasz die Sieben auch grosz war im Kleinen, wie die Sieben Zwerge lehrten, oder die lächerlichen Spiesz-tragenden Sieben Schwaben.

Nach ihrem Sabbatjahr würde Sibylle freiwillig und unbezahlt fünf Wochen-stunden mehr arbeiten und sich mit Herz und Hand dafür einsetzen, dasz alle Mitarbeiter, einschlieszlich der Filialisten es ihr gleichtaten. Auf sieben Tage Urlaub würden alle Einsichtigen gern verzichten, wenn man ihnen erklärte, dasz diese sieben Tage Arbeit die Konkurrenzfähigkeit des groszen Ganzen und damit das Glück ihrer Familien sicherten.

Am Grunde der Moldau, da wandern die Steine

In den Ulmen oberhalb des groszen Sees schrien die Raben. Sibylle zählte die Auffliegenden und es waren Sieben. Was war das, ein Zug, ein Schwarm, eine Kleingruppe? Eine „Kette“ Rebhühner hiesz es in der Sprache der Jäger. Vom Bild zur Zahl und von der Zahl wieder zum Bild und zur Welt-Erkenntnis. Man hatte ihr einst das Zählen und Rechnen beigebracht, indem man ihr Steinchen vorlegte, die sie bewegen sollte, zählend und rechnend und sie hatte es unwillig an sich geschehen lassen. Viel später sah sie hindurch, auch durch Steine, um zur Zahl zu gelangen. Und irgendwann später, zwischen Zählen und Wissen, sollte sie singen „Am Grunde der Moldau, da wandern die Steine“ und sie konnte es nicht, nicht der getragen-wiegenden Melodie halber, sondern weil ihr die Worte zu ungenau waren. Die sieben Raben setzten sich auf die Lehne der Parkbank und blieben sitzen, als Sibylle langsam auf sie zuging. Sie waren alle rechts beringt und ihre Federkleider schienen frisch gebürstet.

Sibylle setzte sich vorsichtig auf die vordere Planke der Sitzfläche und hub an, den Vögeln ihre Geschichte zu erzählen. Wie sie eine Schwester bekommen hatten, worüber sich Vater und Mutter sehr freuten, die Schwester aber krank und schwächlich war, weshalb einer der Söhne fortgeschickt wurde, um mit einem Krug Wasser aus dem Brunnen für eine Nottaufe zu holen. Wie die anderen mitgekommen waren und wie ihm der Krug zerbrach und wie sie sich aus Furcht vor dem Vater nicht heimgetraut hatten. Wie der Vater daheim mutmaßte, die Söhne haben über dem Spiel den Auftrag vergessen und wie er sie darob verfluchte, sie mögen sich in Raben verwandeln. Wie die Tochter doch heranwächst, schön wird und wie man ihr die Existenz der Brüder verschweigt. Wie sich das Geheimnis doch enthüllt und die Tochter die Schuld tragen musz am Fluch der Söhne und wie sie damit hinauszieht bis ans Ende der Welt. Wie sie mit dem bösen Mond und schlieszlich mit den guten Sternen spricht, die ihr den Schlüssel zum Glasberg geben, darin die Raben-Brüder wohnen. Wie sie den Schlüssel, der ein Knöchelchen ist, verliert und sich einen Finger abschneidet, um damit den Glasberg aufzuschneiden. Und wie ein Zwerg sie empfängt und spricht: „Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst Du hier so lange warten, bis sie kommen, so tritt ein.“ Und wie der Zwerg die Speise der Raben herein trug, auf sieben Tellerchen und in sieben Becherchen und wie sie von jedem ein Bröckchen und ein Schlückchen nahm und einen Ring fallen liesz. Und wie die Heimkehr der Raben durch ein Geschwirr und Geweh in der Luft angekündigt ward.

Den letzten Part, den Schlusz der Geschichte, in dem die Raben zu menschlicher Gestalt erlöst werden und alle einander herzen, küssen und fröhlich heimkehren, liesz sie zunächst fort. Sie wollte sichergehen, dasz die Vögel diese Erlösung auch wirklich selbst wünschten.

Wiebke Johannsen, geschrieben für Puzzlink-Evidenz „Sieben“ 2004