Die Bauzeichnerin Ingeborg Sörensen erinnert sich.
– Renate Rampf zugeeignet –
Fräulein Ingeborg, machen Sie aus dem Paar im Vordergrund bitte eine Reinzeichnung. Brauchen wir morgen früh. Denken Sie immer an unser Leitbild, klare Linien, keine Schnörkel. Das Fräulein bemühte sich um einen Schnörkellosen Blick. Wollten Sie nicht eigentlich Modezeichnerin werden? Da müssen Sie das doch können. Ingeborgs Mundwinkel zuckten nach oben. Ja Herr Graaf. Ingeborg ist die Frau, die sich nicht traut. Nun ist sie im letzten Lehrjahr. Bauzeichnerin. Der Herr Architekt blickt wieder so vertraulich. Das ist der Blick, der sie daran erinnern soll, dasz sie die Stelle einer Freundschaft zwischen ihrem Vater und dem Herrn Architekten verdankt. Bauverwaltung der Luftwaffe, die ganze Kriegszeit über, es hatte ihn u.k. gestellt, beim Vater sorgte es immerhin für einen Etappenjob, Beschaffung von Baumaterialien. Die Männer gingen manchmal zu Kameradschaftabenden. Manchmal meldeten sie sich anderntags krank.
Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein. Die Anspielung. Die Dankbarkeit brachte der Vater gern zur Sprache.
Eigenartig, an was sie sich erinnert, in diesem Interview, geführt 60 Jahre später. Nun erzählen Sie mal, Frau Sörensen. Alle wuszten, dasz das ein suboptimaler Einstieg war. Sie erinnert sich an die Seehundfellstiefel, die die Mutter ihr leihen muszte, der Winter °62/°63 war der kälteste seit Jahrzehnten, von einem „Jahrhundertwinter“ sprach man in Wochenschau und Radio. Die Mutter mahnte: Du warst ja noch nicht geboren und Krieg war noch und wir hatten nichts zum Heizen und viel kälter war’s. Und danach erst.
Ingeborg nutzte ihre Gabe des Aus-Sich-Heraus-Tretens. Es gibt sie dann doppelt. Menschliche, mütterliche wie männliche Worte verwandeln sich in sanftes Blätterrauschen.
Sie hört auch nicht zu, als sie erfahren soll, dasz das Toupieren ihre ohnehin dünnen Haare, diese „Fusseln“, ganz ruinieren werde.
Ingeborg erinnert sich, dasz die zweite Ingeborg, die gerade mit einem gewaltigen Lidstrich, einen Aufschwung-Balken wie bei Sophia Loren unter einem Laubdach hervortritt, um in ein Auto einzusteigen, das war ganz sicher zitronengelb und hatte Heckflossen.
Ferner konnte sie sich deutlich ans Nicht-Erinnern erinnern. Ein junger Mann mit kurzem nordischen Namen pries Ingeborg seine Podcast-Reihe und legte vor:
Jetzt in diesem Moment kreieren Sie die 60er und Ihre Tätigkeit im Architekturbüro Graaf. Und jetzt in diesem Moment wuszte der noch unerfahrene Interviewer, dasz er einen Patzer gemacht hatte. Doch Ingeborg hatte ihre Fähigkeit des Aus-Sich-Heraustretens in den letzten 60 Jahren nicht nur nicht eingebüszt, sondern sogar verfeinert.
Für die Figuren im Vordergrund, die die Architekturskizze beleben sollte, die mit ihrer Leichtigkeit und Anmut die Idee des Bauwerks unterstreichen sollte, orientierte sie sich am Buchstaben A. Zwei markante Kopfbedeckungen schwebten über den Köpfe wie Akzents. Hier hätte der Interviewer mäkeln können: Französisch haben Sie doch erst später gelernt, Ingeborg. (Ich darf Sie doch so nennen.) Eigentlich nicht.
Die Kälte verging eigentlich nicht. Vergeht Kälte? Kälte war doch eigentlich nur die Abwesenheit von Wärmeenergie.
Es fiel ihr ein Gespräch mit Sieglinde ein. Die Eltern ermöglichten ihr den Besuch der Oberschule. Sieglinde hatte viele kluge Gedanken, die sie gern teilte.
Das erste Mal hatte sie in dem Zusammenhang mit Sieglindes Wärmelehre-Gedanken an die riesigen Glasflächen gedacht, die das kleine Teehaus für die IGA haben sollte. Daraus, aus riesigen Scheiben, sollte das Pavillonartige Gebäude recht eigentlich bestehen. Sieglinde: kann da nicht jeder von den Besuchern im Park den Frauen unter den Rock schauen.
An was die Freundin da immer dachte. Sie wollte von ihr viel mehr wissen, wie es sich mit dem vielen Glas verhält. Das ist doch so kalt – und vielleicht heisz in irgendeinem Sommer. (Wie ging das: sich Wärme vorstellen? Etwas ausziehen müssen, weil es zuviel des Guten war?) Sieglinde hielt die Erwärmung nicht für das Problem – das werde doch heutzutage mit Erdöl gemacht und das sei sehr sauber und billig. Wie? Eine Heizung ist nicht vorgesehen? Nunja. Kostet ja alles. Und wenn es doch ein IGA-Bau ist – die Blümchenschau ist doch im Sommer. Kommt der wieder weg danach? Nein.
Gerade die neue Idee, durfte Ingeborg es überhaupt verraten?, den Glaskubus, aufgehängt an vier Stahlstreben, auf Wasser, statt auf Grün zu stellen. Das wäre was, die vielen Spiegelungen, Ingeborg hatte es gefreut, ehe der Herr Architekt es kompliziert in Worte faszte.
Das Interview plätscherte dahin. Was sie damals mitgekriegt hätte vom Ärger über die hohen Eintritts- und Gastronomie-Preise?
Ich konnte ja so rein. Wissen Sie, die Leute regen sich doch immer auf
Was war das denn damals? 3 Mark für Erwachsene.
Achja, ich glaube, das war etwas mehr als Kino damals. Der Interviewer berichtete von seinen Recherche-Ergebnissen: 2 Mark das halbe Pfund Butter, 15 Pfennig das Pfund Kartoffeln, 8 Mark das Pfund Kaffee. Was das immer sollte, der Butter-Vergleich, als ob damit bezahlt wurde. Kannsein, kommentierte Ingeborg. Ihr besseres Double war gerade von der Limousine in ein Schiff umgestiegen, es sah aus wie die Cap San Diego, die Typhone erklangen, als sie an Bord war. Ob sie sich an das Gastronomische Angebot erinnert? Ingeborg hatte Freikarten für die Schau – und erinnert sich, dasz der sparsame Chef sie einlud zu Leber- und Nierenragout mit Reis und dasz es 3 Mark gekostet hatte. Er hatte das ganze Büro „ausgeführt“, für die Damen gab es eine Spätlese, für die Herren ein Pils dazu. 3 bis 5 Mark kosteten die Tellergerichte. Aber man konnte auch teurer einkehren.Was ihr jetzt gerade wieder einfiel: auf dem Heimweg nach der Reinzeichnung des Vordergrund-Paares, der Chef hatte es mit dem üblichen: ja, so ungefähr, ich geh da nochmal drüber, Sie können Feierabend machen, ist ja spät geworden.
Auch heute ging sie zu Fusz nach Hause. Für die Dauer des Teehaus-Projektes war ihr Arbeitsplatz im Zweigbüro am Neuen Steinweg in Hamburg 11. Das Hauptbüro war im deutlich schickeren Grosz Flottbek – doch auch von dort konnte sie, wenn auch eher bei sommerlichen Temperaturen – zu Fusz nach Altona laufen. Auf dem Heimweg hatte sie Trudi, eine Schulkameradin getroffen. Der Wind pfiff unbarmherzig, wahrscheinlich Ostwind, hier an der Ecke, wo es zum Hafen runterging, kam er von allen Seiten. Die quadratische Trudi. Trudi war der Kobold der Klasse, Ingeborg hatte immer auf einen Sicherheitsabstand zu ihr geachtet. Hatte Trudi nicht irgendwas mit Schiffen zu tun gehabt? Sie hatte Ingeborg spontan eingeladen, über einer richtigen Spelunke wohnte sie. Wo es warm war. Trudi qualmte und bot ihr kleine bunte Pillen an. Wie, Du hast bis eben gearbeitet? Ich hab da was für Dich. Komplett harmlos – und Du wirst sehen, wie die Deine Leistungsfähigkeit steigern. Du brauchst dann einfach viel weniger Schlaf. Preludin. DER Wachmacher. Probier gleich mal. Und wenn Du schlafen willst, und es geht nicht: da nimmste diese hier. Steht sogar drauf: „Zur Beruhigung und Entspannung – Contergan forte.“
Sie nannte die Markennamen nicht. Und weder Angebot noch Nachfrage. Es könnte den jungen Mann schockieren. Und vielleicht war es ja auch gar nicht wahr. Die kleinen wunderwirkenden Pillen konnten auch anders geheiszen haben. Aber die wohlklingenden Markennamen Preludin und Contergan hatten sich in ihr festgesetzt. Es waren die am meisten verkauften Amphetamine und die am meisten verkauften Barbiturate. Wer A sagt … Und Contergan war schon vor der Aufdeckung des Skandals stark verdächtig, Nervenschäden auszulösen. Rasches Ermüden gehörte dazu, Wadenkrämpfe, Zuckungen.
Manchmal kritzelte Ingeborg abends noch etwas in einen Block, einzelne Wörter und kleine Bildchen.
Hätte sie die Mittelchen für morgens und abends, die da diskret im Federmäppchen verstaut neben dem Block lagen, zeichnen sollen, sie hätte einen weiten Mantel mit Kapuze gezeichnet. Ein flauschiger Mantel, der sie ganz umhüllte, nur die Nase blieb frei.
Allerdings sah sie dasz ihre Eltern ebenfalls zu entsprechenden Mittelchen griffen, und seither nicht mehr über nächtliches Wachsein klagten. Jedenfalls darüber nicht. Sie schliefen tief und fest und Ingeborg holte sich die Rotlichtlampe aus der Speisekammer, um sich das warme Licht über ihren Bauch flieszen zu lassen.
Nein, einen Fernseher hätten die Eltern nicht besessen. Das kam erst mit Einführung des Farbfernsehens, das musz so Neunzehnhundertsiebenund-sechzig/Achtundzechig gewesen sein.
Und vorher?
Die Mutter sei eigentlich dagegen gewesen. Sie hatte gemeint, es zerstöre die kindliche Phantasie – gemeint war nicht ihre, Ingeborgs Phantasie, sondern die von dem kleinen Kurt. Ob die Strahlen nicht auch die Gesundheit gefährden?
Ingeborg, die zweite: In einem Strahlenkranz aus Licht stand sie auf einer groszen leeren Bühne und hielt ein Mikrophon in der Hand. Der Saal vor ihr schien leer zu sein. Sie wuszte: die Situation erforderte irgendetwas von ihr. Sollte sie etwas singen?
Und vorher? Der Interviewer wollte unbedingt etwas übers Fernsehen hören. Ein kleines Erlebnis fiel ihr ein, das musz ungefähr zur Zeit des Teehaus-Baus bzw. der Planung gewesen sein: Kurt, dessen Phantasie eindeutig in Richtung Cowboy und Indianer, Auflauern, Schieszen und Totstellen ging, verschwand neuerdings
Sonnabend-Nachmittags. An einem freien Tag folgte Ingeborg ihm. Sie muszte zustimmen: Mutter hätte es nicht erlaubt. Die Dahlenbergs hatten ein Reihenhaus mit Terrasse und von hier konnte Ingeborg unbemerkt erspähen, dasz da sechs kurzbehoste Knirpse auf dem Sofa saszen und eine Westernserie sahen. Die Eingangsmelodie war Ohrwurmtauglich, am Anfang brannte eine Landkarte und dann ging es um eine Familie, die nur aus Männern bestand. Die Serie hiesz BONANZA und verschwand bald wieder aus dem Ersten Deutschen Fernsehen.
Wissen Sie warum? Der junge Mann hatte sich schlau gemacht. Nach 13 Folge setzte man die Serie um Papa Ben Cartwright und seinen drei Söhnen ab – es sei zu brutal für die Deutschen. Die protestierten. Und ein paar Jahre später sendete das Zweite Deutsche Fernsehprogramm dann jahrelang Neues von der Ponderosa-Ranch.
Was erinnern Sie?
Ja, da war was. Ich weisz nicht, ob Sie das verstehen…
Nur heraus mit der Sprache.
Sprache – also: Stimme. In seine Stimme habe ich mich verliebt. In die Stimme von Ben Cartwright. Gespielt von Lorne Green. Den fand ich toll.
Ich dummes Ding habe ja damals geglaubt, dasz die alle Deutsch sprechen. Dann kam ich aber doch dahinter, dasz im Deutschen Fernsehen eine synchronisierte Fassung lief. Und dasz ich mich in den Hamburger Schauspieler Friedrich Schütter verknallt hatte. Was für eine Stimme! Also, wie soll ich das beschreiben?
So tief, so warm. Eine Stimme wie zum drin wohnen. Und ich kaufte mir von meinen Ersparnissen ein kleines Nordmende-Transistorradio und damit konnte ich NDR-Hörspiele hören. Z.B. „Die Jagd nach dem Täter“ – und da sprachen ganz berühmte Schauspieler. Und auch der Schütter. Gegen Radio hatte meine Mutter übrigens nichts.
Der Weg vom IGA-Eingang beim Bahnhof Dammtor bis zum Teehaus war ungünstig weit. Da fanden viele gar nicht den Weg dahin. Ob es da wirklich nur Tee gab?
Tee in hohen Gläsern gab es, das auf jeden Fall. Und auch die Spezialität der IGA, den „Eisbecher Blumenpark“, das war Vanilleeis mit Früchten. Nein, ob es frische Früchte waren, das weisz ich nun wirklich nicht mehr.
Musikalische Intervention Melanie
Wiederum an dieser Stelle eine Bild-Text-Schere: Ingeborg berichtete von Feiertagsbesuchen mit Sieglinde im Park, viel Japan kam vor, das waren beeindruckend ordentliche Gärten. Und die vielen Wasserschwertlilien, zig Sorten davon. Und sie sah sich oder eine andere und ältere Version ihrer selbst sitzen in diesem Teehaus, allein, es war wieder mal ein kühler Tag und die Auszenterrasse war nur spärlich besetzt.
100 Plätze waren das angeblich hier drinnen.
Ein Eisbecher Blumenpark muszte es jetzt sein. Mit Papierschirmchen und ganz viel Sahne, die wirklich wie so ein Berg mit Pisten daher kam.
Ananas hatte sie damals schon geliebt. Ein Eisbecher wie ein Eisberg, nein, hier guckte doch mehr vom Eis oder von der Sahne über den Becherrand hinaus. Was hatte es eigentlich mit dieser Spitze des Eisberges auf sich? Das meiste entzog sich den Blicken, trieb unter Wasser, dem Eiswasser des Nordmeers höchst-wahrscheinlich. Sie meinte, nur am Rande mit dem Grund des Glaswürfels befaszt zu sein, in dem sie sasz. Wenn man das Eis ganz schnell löffelte, betäubte es den Hals oder besser den Schlund von innen. Die Sahne-Hänge hatte sie beiseite geräumt, um sie danach, vermischt mit den Fruchtstückchen, zu lutschen.
Die Gedanken ans Architekturbüro Graaf drängten sich in ihr Eis-Zeremoniell. Richtige Dackel-Sorgenfalten hatte der Herr Architekt gehabt, als im November 1961 das Gutachten kam: In fünf Metern Tiefe hatte die Grundwasser-untersuchung, das wurde immer vor Bauvorhaben gemacht, Probebohrungen, also die Grundwasseruntersuchung einen erhöhten Sulfatgehalt festgestellt.
Herr Graaf war vor Ort gewesen und die Arbeiter hätten ihn gar nicht drauf hinweisen müssen. Der Ort der IGA war der Wallring, der Herr Architekt sprach immer vom barocken Befestigungssystem. 1945 hatte die Baubehörde, Abt. Tiefbauamt die Gräben mit Trümmerschutt verfüllt. Es war der Trümmerschutt, „ausgelaugter Trümmerschutt“, der für den Sulfatgehalt sorgte. Vor allem der Gips der toten Bauten zerflosz da unter uns. Ingeborg sah eine Welt aus Gips vor sich – Büsten und Figuren aus Gips, Stuckdecken aus Gips, alle Straszen und Bürgersteige waren aus bleichem Gips.
Jetzt, Anfang der 60er Jahre, gab es keine Grundstücke mehr mit Trümmern. Die Behörden und private Firmen hatten es bis Mitte der 1950er Jahre geschafft, alles irgendwo verdichtet oder verhackstückt unterzubringen: innerstädtisch in Fleeten und in Wallringgräben. Der Herr Architekt hatte sich mittags an seine Angestellten gewandt: Das ist schon eine groszartige Leistung. In nur 10 Jahren die Hinterlassenschaften dieses grauenhaften Krieges zu beseitigen. Und wir bauen jetzt alle mit an einem schönen neuen Hamburg. Modern, hell, klar. Ehe Sie wieder an die Arbeit gehen – dieser Tage stand es ja wieder in der Zeitung: allein in unserm armen Hamburg sind es 43 Millionen Kubikmeter Trümmer. Da hat jemand ausgerechnet, dasz die Güterwaggons allein mit dem Schutt aus unserm Hamburg einmal um den Erdball reichen würden. Und hier im Park ist die Schicht nur acht Meter mächtig. Das ist eine grosze statische Herausforderung, das kann ich ja nicht allein … (hier fehlte das Verb), jedenfalls braucht es hier Spezialbeton, da das Sulfat den Beton angreift.
Und am gleichen Abend, Ingeborg erinnerte es, weil sie eigentlich ganz schnell nach Hause wollte, die Mutter hatte doch Geburtstag und sie wollte daheim helfen, hielt sie der Polier auf, ein Mann mit schaufelgroszen Händen und gutmütigem Blick: Und wissen Sie was, junges Frollein, was die Nazis hier kurz vor Schlusz veranstaltet haben? Ich hab ja hier gewohnt, Hütten, gleich gegenüber. Da ging ihnen endlich der Arsch auf Grundeis. Die haben da tagelang Papiere, Akten verbrannt. Fremdarbeiter und Frauen muszten das machen.
SS in schwarzen Uniformen stand drum rum. Habbich alles gesehen. Aber wie ich sehe, wollen Sie los, für wen sind denn die Nelken, ich hoffe, für einen hübschen jungen Verehrer?
Der Eisbecher Blumenpark war schon etwas Besonderes. Auf dem Schutt von vielen Wohnungen, Leben, Sterben und Glück und Unglück sie da sasz und löffelte. Sie erinnerte und behielt es für sich, der Interviewer hatte nicht danach gefragt. Er schien sich nicht für Architektur zu interessieren. Acht Meter. Die Eltern waren nicht ausgebombt worden. Da stand noch das schwere Bufett aus dem dunklen Holz, mit dem aufgeleimten Blattwerk und den vielen Zierrippen. Darin noch das Geschirr „für gut“. Sowas war auch der Baugrund, der Schuttboden unter dem Teehaus und unter ihr, der Bauzeichnerin im letzen Lehrjahr, ledig, nicht verlobt, die sich an einem Sonntag im Sommer 1963 etwas gönnen muszte.
An den Nebentisch hatten sich drei ranke schlanke Damen gesetzt, die lässig ihre Nerzjäckchen über die Stuhllehnen warfen. Ob es sich um Mannequins handelte? Jedenfalls fanden in der Parkanlage, verbunden mit der Seilbahn und der Porschebahn zu bestimmten Zeiten Modeschauen statt.
Ingeborg blätterte in einem mitgebrachten Magazin und versuchte, den schicken Damen zuzuhören. Es wurde leider erschwert durch ein Gruppe von mittelalten Ehepaaren, die sich für den Groszstadtausflug fein gemacht hatten und nun sehr abgekämpft wirkten. Die Damen trugen Hüte, wie die Gattin des Bundespräsidenten Lübke einen bei der Eröffnung der IGA getragen hatte, Ingeborg muszte bei diesen Gebilden immer an Lampenschirme denken. Sie sprachen mit irgendeinem süddeutschen Dialekt. Bald hatten die Männer rote Köpfe, sie politisierten.
Eine Unverschämtheit sei das, nach so langer Zeit, wohlangesehene Bürger. Familienväter, Ärzte, Kaufleute. Geschmacklos, diesen Prozesz vor Weihnachten zu beginnen, eine widerliche Nestbeschmutzung. Jetzt müsse mal Schlusz sein und Prozesse hätten die Allierten doch schlieszlich auch genug geführt. Nein: mehr als genug. Na, wird vorbei gehen wie der Krieg, darauf einigten sich die IGA Besucher und dann würde in 20 Jahren niemand mehr davon und den angeblichen Kriegsgreueln sprechen. Das war doch das eigentliche Übel und sie stieszen auf den Frieden an.
Ingeborg hatte nach ihrem Double gesucht, das war ihr erinnerlich. Die andere Ingeborg sasz in einer Gondel hoch über der Blumenschau, die Pylone waren mindestens doppelt so hoch, ganz klein die Besucher und sie trug einen weit schwingenden türkisen Glockenrock, den der Wind leicht bauschte. Da flogen die roten und blauen Streublümchen davon wie die Flugsamen der Pusteblumen.
Damals hatte sie keine Kalorien gezählt. Und heute auch nicht mehr, das war schon ein hübscher Kreis-Gedanke. Und kalte, also Eiskrem-Kalorien hatte sie später meist wissentlich nicht mitgezählt. Kalorien waren die Maszeinheiten für Wärme und die Grundbedingung für alle Funktionsweisen des Organismus. Sie hörte Sieglindes etwas schartige Stimme. Irgendwann hatten die Freundinnen sich aus den Augen verloren.
Frau Sörensen, ich weisz, Sie sind jetzt müde. Aber eine letzte Frage hätte ich noch für meinen Podcast „Hamburg Neunzehnhundertdreiundsechzig“: über das Aus fürs Hippodrom haben wir gesprochen, dasz man in der Straszenbahn nicht mehr rauchen durfte – mit Rücksicht auf die Schaffnerinnen und Schaffner übrigens. Und dasz die Promillegrenze für Autofahrer bei 1,5 lag.
Sie haben das alles erlebt und erinnert. Und wie war das mit dem groszen Prozesz in Frankfurt damals, dem sog. Auschwitz-Prozesz. Haben Sie da eine Erinnerung?
Ach wissen Sie, nein. Nicht wirklich. Das hat mich nicht so interessiert. Da wurde damals auch kaum drüber gesprochen.
ENDE